Der Jakobsweg
sei? Das Portal sei alt, ja, na und? Ein anderer Mann, den ich hinter den Grabaufbauten nicht wahrgenommen habe, hört den Disput und mischt sich ein: Natürlich sei es romanisch, aus dem 12. Jahrhundert. Vor hundert Jahren habe man es hier aufgestellt. Selbstverständlich sei es vorher Teil einer Kirche gewesen. Es habe zu der Pilgerstätte des Ordens San Juan de Acre gehört. Leider seien davon nur noch Ruinen vorhanden, am anderen Ende von Navarrete könne man die eingestürzten Mauern sehen. Nur dieses Portal konnte gerettet werden. Nach dieser knappen, präzisen Auskunft verschwindet er wieder hinter den Gräbern. Ich frage den Mann mit der Schubkarre, wer das gewesen sei.
»Nie gesehen, der ist nicht von hier«, knurrt er und schiebt seine Karre zum Abfallhaufen.
Nach dem Friedhof von Navarrete schließt sich für mich ein zweistündiges Martyrium an, denn wieder ist der Pilgerweg zur Straße ausgebaut. Die Männer in ihren Autos drücken wild auf die Hupen, blenden die Scheinwerfer auf, schneiden Grimassen, halten an, fahren vor und zurück. Ich fühle mich wie die heilige Jungfrau von Orleans, die Imponier- und Drohgebärden prallen ab, als trüge ich ein schützendes Kettenhemd. Endlich zweigt der Pilgerweg nach rechts ab. Als ich die Straße nicht mehr sehe und höre, lege ich mich auf die Erde. Ich spüre, wie hart sie ist. Wegen der Trockenheit ist sie zersprungen in viele kleine Schollen. Ein warmer Wind weht über meinen ausgestreckten Körper. Es duftet nach würzigen Kräutern. Langsam weicht der Druck, und ich kann wieder befreit atmen.
Spät erreiche ich Nájera, nach 28 Kilometern Tagesmarsch. Zuerst einige Fabriken, dann gesichtslose Neubauten. Die Altstadt befindet sich jenseits des Flusses Najerilla, mit schmalen Straßen und Gassen, heimeligen Plätzen, Kirchen und altehrwürdigen Gebäuden. Auch Nájera war königliche Residenzstadt. Das schönste Bauwerk ist das Kloster Santa Mariía la Real. Ich läute an der Klosterpforte. Ein Mönch öffnet. Er schüttelt den Kopf, nein, es sei jetzt keine Besuchszeit mehr. Ohne viel Hoffnung auf Erfolg sage ich, ich wäre eine Pilgerin, zu Fuß unterwegs nach Santiago. Als hätte ich ein Zauberwort gesprochen, hellt sich sein Gesichtsausdruck auf. »Una peregrina, verdad - eine Pilgerin, tatsächlich? Na, dann kommen Sie mal herein.«
Er führt mich zu einem Raum. »Sie können den Rucksack abstellen und auch hier übernachten. Sie haben ja sicherlich alles Nötige dabei.«
Ich bin überrascht. So ein Angebot! Als Fremder und noch dazu als Frau darf ich im Kloster schlafen. Ich war der Meinung, die Mönche würden sich vor allem Weltlichen und besonders Weiblichen so weit wie möglich fernhalten, und nun wird mir ganz selbstverständlich ein Nachtlager angeboten. »Es ist eine Tradition, der wir verpflichtet sind«, sagt der Mönch, ein Franziskaner. »Früher, als alle Menschen noch zu Fuß gingen, war es Aufgabe der Klöster, den Pilgern Unterkunft und Essen bereitzustellen. Heute kommen nur noch wenige. Sie sind eine Ausnahme. Deswegen können wir leider auch nicht extra für Sie kochen. Nun folgen Sie mir, ich will Ihnen unser Kloster zeigen.«
Der Mönch steigt mit mir hinab in die Krypta. Eine Lampe leuchtet in einer Wandvertiefung.
»Das war die Stelle, an der die Jungfrau Maria dem König Garcia Sanchez III. erschien«, sagt der Franziskaner. Garcia war der Sohn von Doña Mayor, die die Brücke von Puenta la Reina stiftete. Verheiratet war er mit Doña Estefanía, die auch als Stifterin der gleichen Brücke gilt. Der Mönch erzählt mit einfachen, monotonen Worten die Legende: »Eines Tages befand sich König Garcia auf der Jagd. Er sah eine Taube und warf seinen Falken empor, um sie zu erjagen. Die Taube entfloh in eine Höhle, der Falke setzte im Jagdeifer hinterher. Der König ritt heran, stieg vom Pferd und trat in die dunkle Grotte ein. In der Tiefe leuchtete ein Licht. Garcia tastete sich vorwärts und erblickte Maria, die Muttergottes. Nachdem sie ihm aufgetragen hatte, ein Kloster zu errichten, verschwand sie. Zurück blieb eine Holzplastik - eine Madonna mit Kind. Zu ihren Füßen, friedlich beieinander, saßen der Jagdfalke und die Taube.
Wunder mußten sich damals entweder auf der Jagd oder bei Kriegszügen ereignen, den Hauptbeschäftigungen des Adels. Eine Kirche oder ein Kloster, die gewissermaßen im Auftrag einer Heiligen errichtet wurden, waren angesehener und erhöhten den Einfluß seines adligen Stifters, besonders
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