Der Jakobsweg
gleichen Stelle, klein, rundlich, einsam. Ich winke. Er hebt nicht die Hand.
9 Von Logroño nach Nájera
Elf Kilometer sind es bis Navarette auf einem Feldweg. Nicht mehr das Gelbgrün des reifenden Korns, sondern Wein, Wein, Wein! Knorrig stecken die Rebstöcke in rotbrauner Erde. Frischgrüne Blätter treiben üppig aus der trockenen Rinde. Lange noch denke ich an die Begegnung mit Pfarrer Rafael Ojeda. Eigentlich sind es Widersprüche, sein Glaube an die Bäume, an die mystische Kraft des »el mundo vegetal«, die sonderbare Geschichte mit den drei Augen in Galicien und dann wiederum sein tatkräftiger Einsatz für die Bewohner des Vorstadtviertels Yague und die ganz unsentimentale Einschätzung seiner Möglichkeiten, der Pragmatismus seiner Ansichten. Einerseits die Hilfe für Revolutionäre und Verfolgte während der Franco-Diktatur, andererseits sein Glaube an Gott und die Unveränderbarkeit der Welt. Hier die Aufgabe jeglichen Privatlebens - in seiner Wohnung gehen die Menschen aus und ein, schlafen, essen, diskutieren - dort seine Einsamkeit, sein Verlorensein in der Welt.
Im Rhythmus des Gehens verschmelzen die beiden gegensätzlichen Aspekte seiner Person für mich allmählich zu einer Einheit.
Ein heftiger Wind treibt mich vorwärts und beschwingt meine Schritte. Ich atme den Duft von Thymian, Disteln und trockener Erde. Die Ortschaften liegen in der Rioja nicht mehr auf den Erhebungen der Landschaft, sondern sind eingebettet in den Senken.
Navarrete muß einstmals eine wohlhabende und bedeutende Stadt am Pilgerweg gewesen sein. Betrachte ich die Fassaden der ehemaligen herrschaftlichen Häuser, die heute vor sich hinbröckeln, kommt in mir eine merkwürdige, traurige Stimmung auf. Zu sehr spüre ich das Vergehen der Zeit, die Vergänglichkeit alles Irdischen, das hier zu einer seelenlosen Atmosphäre geführt hat. Außerhalb, am Ortsrand, ein überraschender Anblick: Links an der Straße steht ein Portal. Ein Portal, ganz für sich allein, ohne Kirche. Nach innen gestaffelte Säulen, darüber maurische Zackenbögen in vollkommenem Halbrund. Auf den Kapitellen Kleinplastiken. Naive, derbe Figuren, manche in ihrer drastischen Eindeutigkeit unfreiwillig komisch wirkend, wie die Szene, wo Kain den vor ihm knienden Abel am Haarschopf packt, in der erhobenen Faust den Stein. Die Geste wirkt wie mitten in der Bewegung eingefroren. Sie erinnert mich an das Märchen von Dornröschen, als der Koch dem Lehrling eine Ohrfeige geben wollte, aber seine Hand, zum Schlag erhoben, erstarrte, hundert Jahre lang. Wollte der Künstler mit der Art seiner Darstellung die Tötung Abels aufhalten, eine Frist setzen? Er hat die letzte Sekunde vor dem Tötungsakt in Stein gebannt. Er gab Kain eine Bedenkzeit, die bereits 800 Jahre andauert.
Durch die Kunst der Bildhauer wurde Vergangenes bewahrt und den Menschen übermittelt, denn damals konnte fast niemand lesen. Die Vorstellungswelt wurde deshalb nicht von Büchern geprägt, sondern von Portalplastiken, den Skulpturen und Gemälden in den Kirchen. Diese nährten Phantasie und Imagination, gaben bildhaft Kenntnis von der Geschichte und wirkten gleichnishaft und symbolträchtig auf Moral und Wertvorstellungen. Allmählich verwittern nun diese einprägsamen in Stein geschlagenen Bilder. Sie werden nicht mehr benötigt. Was sie erzählen, hat kaum noch etwas mit uns zu tun, vieles können wir überhaupt nicht mehr deuten, es ist rätselhaft und unverständlich geworden. Wenn die Konturen der Steine unkenntlich verwittert sind, löst sich der Bann, der auf dem erhobenen Arm lag, dann wird Abel erschlagen, aber es wird niemanden mehr geben, den das interessiert.
Ohne Kirche wirkt das Portal seltsam allein gelassen, von beiden Seiten wird es von einer anschließenden Mauer gestützt. Ich erkenne erst, als ich näher trete, daß das Portal weiterhin als Einlaßpforte dient, allerdings nicht mehr in eine Kirche, sondern in einen Friedhof. Säulengleich ragen die dunkelgrünen Zypressen empor, dazwischen weiße Steinkreuze, geschmückt mit Bildern Verstorbener, Sarkophage, Monumente, Inschriften, Blumen in Vasen und Töpfen. Der marmorweiße Gesamteindruck kontrastiert mit dem Dunkel der Lebensbäume. Mit einer Schubkarre fährt ein Mann durch die Gräberreihen, sammelt vertrocknete Blumen und Kränze ein. Ich möchte von ihm gern etwas über das Portal erfahren und spreche ihn deshalb an. Er versteht nicht, was ich will: Ja, das ist der Eingang, ob etwas nicht in Ordnung
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