Der Jakobsweg
verletzen. Die Gelegenheit scheint mir günstig, ihn über die Tempelritter auszufragen. »Das ist ein Kapitel für sich«, antwortet er bedächtig. »Sie werden Ihnen unterwegs oft begegnen, überall haben sie ihre Spuren hinterlassen. Sie waren sowohl Ritter als auch Geistliche. Ihren Orden gründeten sie während der Kreuzzüge nach Jerusalem um das Jahr 1119. Zweihundert Jahre lang beeinflußten sie die Geschichte Europas, denn sie besaßen Macht und Wissen. Die Tempelherren hatten Bücher aus dem Orient mitgebracht, sie experimentierten mit Alchemie und magischen Zahlenquadraten, schließlich wurde der Orden 1312 verboten und viele Templer wegen Ketzerei, Teufelsspuk, Hexenkunst und was weiß ich noch angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Das können Sie alles nachlesen. Dahinter verbergen sich aber noch viele Geheimnisse, Rätsel, Magie. Vielleicht gibt es sogar heute noch Templer, die sich aber öffentlich nicht als solche zu erkennen geben. Wissen Sie übrigens, daß früher nicht Santiago das Endziel war, sondern finis terre?«
»Finisterre, wo ist das?« frage ich.
»Es ist eine Landzunge, die in den Atlantik ragt. Es bedeutet das Ende der Welt, denn die Menschen des Mittelalters konnten ja nicht wissen, daß sich jenseits des Meeres ein weiterer Kontinent anschließt.«
»Warum sind die Leute denn bis finis terre gepilgert?«
»Nun, einmal ist der Legende nach das Schiff mit dem Leichnam des Jakobus an dieser Küste gelandet. Das muß aber einige Kilometer südlicher bei der Ortschaft Padrón gewesen sein. Eher glaube ich, daß es die große Faszination, dieser kaum zu ertragende Schauder war, auf dem am weitesten ins Meer ragenden Zipfel Land zu stehen, am äußersten Rand des Irdischen, und in die Unendlichkeit blicken zu können. Das war das große Ziel, das allerletzte, die Ewigkeit.«
»Dann sind also die Pilger, nachdem sie Santiago erreicht hatten, noch bis finis terre gegangen?«
»Nein, natürlich nicht alle. Für die meisten war in Santiago Schluß. Es waren nur wenige, die eine von der Allgemeinheit abweichende Religiosität hatten, Mystiker, die anders fühlten, anders dachten, die ihren Gott nicht am Altar, sondern in der Natur fanden.«
»Sie selbst sind auch bis finis terre gegangen?«
»Selbstverständlich! Und wissen Sie, was ich dachte, als ich das anbrandende Meer sah? Ich wußte plötzlich, daß finis terre als Pilgerziel viel älter als Santiago ist, denn bevor es Kirchen gab, hat Gott durch die von ihm geschaffene Natur zu den Menschen gesprochen. Und ich bin sicher, ihm selbst gefällt es besser so.«
Don Rafael führt mich aus dem Viertel heraus bis zur Abzweigung des Pilgerweges.
»So ist es einfacher, als wenn ich es Ihnen erst langwierig erklären würde, außerdem tut mir Bewegung gut.«
Uns begegnen viele Leute, alle grüßen den Pfarrer. Er stellt Fragen, macht Scherze, spricht ein aufmunterndes Wort, gibt einige Ermahnungen. Man spürt, daß er für die Menschen in diesem Viertel eine Hoffnung verkörpert, einen Halt, eine Hilfe. Er sagt: »Es gibt keine sozialen Institutionen, die diese Aufgaben übernehmen. Da kommen sie eben mit ihren Sorgen und Problemen zu mir, ich helfe ihnen, so gut ich kann. Ich glaube, das ist wichtiger, als eine Predigt zu halten. Aber ich kann nicht wirklich etwas ändern, ich meine, ich kann die Voraussetzungen nicht ändern, damit die Menschen hier einen Sinn in ihrem Leben sehen und sich nicht mit Alkohol und Drogen betäuben. Da, sehen Sie, diese furchtbare Fabrik, vor fünf Jahren gab es sie noch nicht, jetzt verpestet sie die Luft und vergiftet die Erde.«
»Aber sie gibt den Menschen doch wenigstens Arbeit«, sage ich.
»Solche Arbeit brauchen sie nicht. Sie zerstört das Leben.«
»Aber was soll man tun?« frage ich.
»Das meine ich eben. Wir können die industrielle Entwicklung nicht rückgängig machen. Man kann nichts tun, nur helfen, die schlimmsten Nöte lindern. Zu allen Zeiten gab es Probleme, früher war das Leben nicht leichter und besser als jetzt, nur anders. Niemand kann die Welt ändern. Sie ist, wie sie ist. Aber dem einzelnen kann man helfen. Wen Gott zu mir führt, für den bin ich da.«
Das sind die Abschiedsworte Don Rafaels. Er gibt mir die Hand, legt die zweite darüber, drückt sie warm und kräftig. Er sagt nichts. Blickt mir in die Augen, gutmütig, wissend, schalkhaft. Mit einem Kopfnicken verabschiedet er mich. Als ich schon weit entfernt bin, blicke ich mich um. Da steht er noch an der
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