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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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sie in großen Mengen auf, fressen sie die Bäume kahl. Vom Totalverlust der Blätter oder Nadeln erholen sich manche Bäume nicht. So kann ein kleiner Nachtschmetterling mitunter Wälder vernichten. Doch das kommt in Mischwäldern selten vor, denn die Prozessionsspinner sind jeweils nur auf eine einzige Baumart spezialisiert. Diese hier sind auf dem Weg, einen Eichenbaum zu finden. Es sieht aus, als würden die meisten Raupen unterwegs umkommen - verhungern, vertrocknen, verdorren. Eine Prozession Sterbender unter sengender Sonne. Die ersten haben keine Ahnung, wo ein neuer Futterbaum steht. Sie kriechen aufs Geratewohl in einer Richtung, wobei sie die einmal eingeschlagene Richtung auch Hindernissen zum Trotz beibehalten. Dabei orientieren sie sich nach dem Sonnenstand, wie mit einem Kompaß. Entweder kommen sie alle um, oder die Widerstandsfähigsten überleben und finden eine Eiche. Mich berührt diese selbstmörderische Prozession der Raupen. Wie ein Symbol weckt sie archaische Empfindungen. Eine Erinnerung an Vorzeiten, als sich die Menschen auf den Weg machten, neue Siedlungsgebiete zu finden. Wenn die Nahrung nicht mehr für alle ausreichte, wanderte ein Teil des Stammes oder der ganze Stammesclan weiter. So besiedelte die Menschheit allmählich, wahrscheinlich von Afrika aus, die ganze Erde. Immer wieder brachen sie ins Ungewisse auf. Viele gingen zugrunde wie bei den Spinnerraupen, aber es genügte, wenn nur ein paar überlebten. Auch die Pilgerbewegung gründete sich, obwohl sie religiös motiviert wurde, auf den dem Menschen innewohnenden Trieb, der ihn ins Unbekannte aufbrechen läßt. Noch eine andere Vorstellung entsteht beim Anblick des Raupenzuges. Ich sehe verdurstende Lebewesen, die durch eine ausgetrocknete Gegend irren und sich dennoch an die Hoffnung klammern, dem Sterben zu entkommen. Ein Sinnbild für Wüstenmärsche verzweifelter Menschen. Der Zug, den Moses anführte, ist ein Beispiel. Die Israeliten gelangten letztendlich ins »Gelobte Land«. Andere grausame Bilder drängen sich mir auf: Vom Todeszug der Armenier, als die Türken ein ganzes Volk zur Vernichtung in die Wüste trieben, oder von dem der Herero, als nach dem großen Aufstand die Überlebenden, Frauen und Kinder, von kaiserlich-deutschen Truppen erbarmungslos in die Kalahari-Wüste gejagt wurden. Das Raupenband wird dünner. Nur noch einzelne kriechen dem großen Zug hinterher. Ein hauchfeiner Seidenstreifen bedeckt den Boden, gesponnen von den Vorauseilenden, als Ariadnefaden weist er auch noch dem letzten den Weg.
    Die Eremitage von Valdefuentes liegt über einem Wiesengrund. Ahornbäume spenden Schatten. In einem Teich quaken Frösche.
    Nach der wüstentrockenen Wanderung erscheint mir der Ort als Oase. Von hier sind es noch knapp zwei Stunden bis San Juan de Ortega. Am frühen Nachmittag erreiche ich dann das Kloster. Nun habe ich viel Zeit, mich zu erholen, denn ich will die Verabredung einhalten und hier auf Gerda, Justin und Atze warten.

    Die Abtei steht in einer Talsenke inmitten von Feldern und wird nicht mehr von Mönchen bewirtschaftet. Dennoch ist es wieder Tradition, Pilgern hier Unterkunft zu geben.
    Sonnendurchglüht strömt der freie Platz zwischen Kirche und Wirtschaftsgebäuden Hitze aus. Die Luft schmeckt nach Staub und Trockenheit. Kein Lebewesen ist zu sehen oder zu hören. Nach Stunden des Wartens im Schatten eines Baumes nähern sich drei Gestalten. Die Rucksäcke fallen zu Boden. Endlich da! Wasser! Wo gibt es Wasser? Ein Krächzen aus trockenen Kehlen. Ich hatte es günstiger als die drei Freunde getroffen, weil ich den anstrengenden Bergpfad zum Teil noch in der Morgenfrühe gehen konnte.
    Als hätte er nur gewartet, bis alle da sind, ruft uns der Pfarrer ins Haus. Die Suppe sei fertig. Als einziger Bewohner der Abtei betreut er die Pilger und kocht sogar für sie. Wir löffeln die würzige Gemüsesuppe. »Das Gemüse habe ich selbst im Klostergarten gezogen«, sagt stolz der Pfarrer. Ich bin überrascht von den praktischen Tätigkeiten, die Geistliche in Spanien ausüben.
    »Das hat eine lange Tradition«, antwortet der Pfarrer. »Zum Beispiel unser San Juan de Ortega. In dem kleinen Dorf Quintaortuno ist er geboren. Das Leben eines Bauern wäre ihm bestimmt gewesen, wenn er nicht durch besondere Begabung aufgefallen und deshalb in einem Kloster erzogen worden wäre. Nach der Priesterweihe reiste er nach Jerusalem, danach lebte er als Einsiedler in den Oca-Bergen. Später gründete er hier ein

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