Der Jakobsweg
León fahren, denn sie befürchtete, die Wanderung durch die einsame Meseta sei zu schwierig für sie.«
»So einsam ist die Meseta gar nicht, wie behauptet wird, man kommt immer mal wieder an einem Dorf vorbei«, entgegne ich. »Na, die Strecke von Hornillos del Camino bis Hontanas fand ich schon sehr extrem«, meint Atze, »ich habe mich total allein gefühlt.
Ich wurde schrecklich depressiv. Doch als ich am Abend nach Hontanas kam, änderte sich meine Stimmung sofort. Hat dir das Dorf auch so gut gefallen? Wieder hatte ich großes Glück und bekam Unterkunft bei einer Familie.« Ich erzähle dem Jungen, wie es mir ergangen war. Wie gern ich in Hontanas übernachtet hätte, stattdessen einen Brotlaib geschenkt bekam und in der Nacht den Kampf der Rothühner beobachten konnte.
In dem dunklen Gewölbe von Pablos Gaststätte, die einstmals eine Pilgerherberge war, wie er uns sagte, merken wir nicht, wie hell und heiß der Nachmittag ist, wir reden, plaudern, schwatzen, erzählen und berichten, was wir gesehen, gehört, gefühlt, gedacht haben. Manchmal sind wir verwundert, auch enttäuscht, wenn der andere etwas entdeckt und erlebt hat, woran man selber blicklos vorüberging.
»Wieso habe ich die Bienenfresser nicht gesehen?« wundert sich Atze. »Sind es tatsächlich so bunte Vögel, wie du sie beschreibst? An die Lehmwand bei Hornillos del Camino kann ich mich erinnern. Natürlich! Ich habe mich noch über die vielen Löcher dort gewundert.«
»Du hast doch viel Schöneres erlebt, Jorge und María in Burgos kennengelernt«, werfe ich ein.
»Schade, wirklich schade! Diese Tür an der Kirche des Hospitals del Rey hätte ich auch gern gesehen«, unterbricht er meine Beschreibung. »Die muß ja phantastisch sein! Vielleicht gehe ich den Weg noch mal rückwärts, um alles nachzuholen, was ich übersehen habe«, meint er scherzend.
Der junge Holländer hat interessantere Begegnungen mit Menschen gehabt als ich. Er hat nicht draußen übernachtet, sondern er wurde meist gastfreundlich eingeladen oder schlief in einem refugio. Sein offenes Wesen erleichtert ihm Kontakte. Trotz seiner Lebensprobleme besitzt er eine sonnige Ausstrahlung. Wenn er sich mit beiden Händen durch seine blonden Igelstacheln fährt und übers ganze Gesicht strahlt, denkt man unwillkürlich: »Das ist aber mal ein netter Junge!« In Castrojeriz traf er Jugendliche, die einen Jugendclubraum ausbauten. Er arbeitete gleich mit. In Boadilla del Camino, dort, wo die gotische Gerichtssäule steht, nahm er an der Messe teil, wurde anschließend vom cura zum Abendessen eingeladen und plauderte mit ihm bis zum Morgengrauen.
Pablo, der Pilgervater, hat uns inzwischen zwei Schüsseln mit sopa del ajo, eine deftige Knoblauchsuppe, hingestellt, dazu Brot, Schinken, Wein. Davon bekommen wir erst recht Appetit und lassen uns die Speisekarte bringen. Atze sagt staunend: »Du bist so dünn und ißt doch soviel. Wie geht denn das?«
»Alles Training«, antworte ich, »die Tage vorher habe ich kaum etwas zu mir genommen, außer Brot, Käse und einer Büchse Fisch. In der Fernfahrergaststätte mit der hübschen Kellnerin hatte ich zum letzten Mal richtig gegessen. Jetzt hole ich alles auf und esse mir einen Vorrat an, das ist sehr praktisch, da brauche ich nicht soviel Verpflegung zu schleppen.«
»Ach, wenn ich das nur auch könnte«, sagt er neidisch. »Es ist schon sehr lästig, ständig ans Einkaufen zu denken oder ein Restaurant zu suchen. Aber ich könnte nicht hungern, wenn ich ein paar Stunden ohne Essen bin, werde ich ganz schwach.«
Vom Essen und dem Rotwein sind wir faul und träge geworden. »Eigentlich wollte ich heute noch bis Carrión de los Condes«, sagt Atze, »aber nun mag ich nicht mehr.«
Als wir von Pablo erfahren, daß am nächsten Tag eine Prozession zur Eremitage der virgen del río stattfindet, beschließen wir, einen Tag länger in Villalcázar zu bleiben.
16 Villalcázar de Sirga
Wuchtig wie eine Trutzburg thront die Kirche Santa María de la Blanca im Dorfe. Bescheiden ducken sich die Bauernkaten vor ihr. Eine breite, steinerne Freitreppe führt hinauf zum Südportal. Das Portal ist weit von einem hohen Vorbau überdacht. Der tiefgestaffelte, spitzbogige Eingang ist gotisch. Zwei Friese mit mannsgroßen Figuren reihen sich über dem Spitzbogenportal. Auf dem oberen ist Jesus dargestellt, umgeben von Aposteln und Evangelisten. Auf dem unteren Fries ist in der Mitte Maria, ihr zur Seite Heilige. Die Kirchentür ist
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