Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs
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Mir persönlich würde folgende Version am besten gefallen: Hunter war unheilbar krank und hat jede Nacht dem Russischen Roulette die Chance gegeben, das Leid abzukürzen. Nur eine Kugel im Trommelrevolver ist eine Chance von fünf zu eins. Das kann ich akzeptieren, das sehe ich ein. So viel Desperado muß sein, um vor der Diktatur des Schicksals nicht völlig das Gesicht zu verlieren.
Bei anderen Selbstmördern wie Tucholsky oder Hemingway bin ich nicht so streng, weil bei denen nur das Werk Vorbildcharakter für mich hat, nicht der Lebensstil. Der ist zu weit weg. Das ist eine andere Generation. Hunter ist nicht nur ein Zeitgenosse, er ist auch meiner Szene zugehörig, geboren aus demselben psychedelischen Schoß. Bei ihm war es nur ein paar Jahre früher, und er war auch ein paar Jahre älter als ich, als er an LSD geriet. Und er war, im Gegensatz zu mir, bereits Journalist. So kam es zu «Angst und Schrecken in Las Vegas». Das Buch funktionierte wie ein Schlüssel in meinem Gehirn. Ich konnte regelrecht hören, wie er einrastete, sich drehte und die Tür aufsperrte. Dahinter lag die wunderschöne Welt des «literarischen Journalismus». Überdies tat sich hier die Möglichkeit auf, ehrlich zu sein: Arschlöcher werden Arschlöcher genannt, auch wenn man sich selbst meint. Das wertvollste Geschenk aber, das Hunter S. Thompson dem Journalismus machte, war das ICH.
Er hat es nicht wirklich erfunden. Truman Capote und Norman Mailer haben das vor ihm getan, aber eher mit der feinen Klinge des Kolumnisten. Hunters ICH dagegen war ein gewalttätiges und von alttestamentarischer Kraft. «Du sollst mich nicht belügen, du sollst mich nicht verarschen, du sollst mir keinen Scheiß erzählen, Sackgesicht.» Das ist nicht wörtlich von ihm, aber Haltung und Tonfall stimmen. So ging er seine Interviewpartner an, und irgendwie zieht sich eine Blutspur durch all seine Reportagen, immer riecht es nach Ärger und Krawall. Das kann nerven, aber in «Angst und Schrecken in Las Vegas» ist jede Zeile genial. Einfach und direkt, wie ein Schuß, und die Wörter, die er benutzt, haben das Aroma der Straße. Manche Kritiker nennen diesen Stil «Jargon», doch das ist Standesdünkel von Akademikern und interessiert auch kein Schwein, denn man frißt dieses Buch von der ersten bis zur letzten Zeile in sich hinein. Andere halten den Ich-Reporter für selbstverliebt und eitel. Auch das ist natürlich Blödsinn hoch drei. Die Eitelkeit ist keine Kleinigkeit. Sie ist eine Todsünde, und für Nihilisten ist sie eine tödliche Schwäche, weil sie manipulierbar macht. Eine Charakterschwäche, tief in der Persönlichkeit eingegraben. Das kriegt man, wenn überhaupt, nur durch harte Arbeit auf der Couch des Psychiaters oder durch harte Erfahrungen in den Griff, aber ganz sicher nicht dadurch, daß man das Dreibuchstabenwort ICH wegläßt. Das funktioniert so nicht. Das Wort ICH hat mit eitel und uneitel nichts zu tun. Es gibt gänzlich uneitle Ich-Schreiber, und es gibt Texte, bei denen der Autor nicht ein einziges Mal ich sagt, und trotzdem tropft die Eitelkeit aus den Zeilen wie ranziges Fett.
Hunter ist wichtig für mich. Er zeigte mir, wie es ging, und es ging schnell. Ich erledigte zwar auch hin und wieder unter dem Einfluß einer Droge meine Arbeit, aber nie unter dem Einfluß aller Drogen auf einmal. Während seiner Reportage über einen Anti-Drogen-Kongreß der Bundesstaatsanwälte und Polizeichefs in Las Vegas nahm Hunter LSD, Koks, Haschisch, Whiskey, Speed sowie die legalen Uppers and Downers der Pharmaindustrie. Diese Konsequenz, diese absolute Recherche, diese Tiefenausleuchtung des Themas brachten etwas in den Journalismus, das vorher nur in den Krankenberichten von Nervenheilanstalten zu lesen gewesen war. Hunter sah die Staatsanwälte sowie die Vertreter der Exekutive als blutrünstige Krokodile die Hoteltreppe herunterkommen; nicht als Vergleich, nicht als poetisches Bild, nicht als Vision, nein, das war eine handfeste Halluzination. Er sah Krokodile in Staatsanwalt-Freizeitklamotten durchs Foyer kriechen, sah sie Cocktails schlabbernd an der Bar.
Das schrieb er eins zu eins auf. Zunächst als Folge für das Magazin «Rolling Stone», dann kam «Angst und Schrecken» als Buch heraus, und Hunter S. Thompson brachte es damit auf einen Schlag zur Journalismuslegende, zum Bestsellerautor und zum Helden der «Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll»-Generation. Dreißig Jahre später hielt er das Leben nicht mehr aus, und
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