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Der Joker

Titel: Der Joker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Zusak Alexandra Ernst
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hat und sie immer noch vermisst.
    Aber aus meinem Mund kommt nichts. Wie viel von uns selbst geben wir unseren Freunden eigentlich wirklich preis?
    Eine lange Stille folgt, die ich schließlich irgendwann durchbreche. Ich muss daran denken, wie jemand das Brot bricht und es verteilt. In meinem Fall reiche ich meinem Freund eine Frage.
    »Marv?«
    »Was?« Seine Augen reißen plötzlich an mir.

    »Wie würdest du dich fühlen, wenn du wüsstest, dass du jetzt, in diesem Moment, an einem bestimmten Ort sein müsstest, aber nicht weißt, wie du dahin kommst?«
    Er untersucht die Frage. Das Mädchen scheint er für den Augenblick vergessen zu haben. »So als würde man gerade den Knochenbrecher verpassen?«
    Immerhin hat er es kapiert. »Genau.«
    »Also...« Er denkt mit Leib und Seele nach, reibt mit seiner rauen Hand über die blonden Stoppeln auf seinem Gesicht. So wichtig ist ihm das Spiel. »Ich würde die ganze Zeit versuchen, mir vorzustellen, was dort gerade passiert, und würde wissen, dass ich nichts tun kann, weil ich so weit weg bin.«
    »Frustriert?«, schlage ich vor.
    »Auf jeden Fall.«
     
     
    Ich habe etliche Straßenkarten und Stadtpläne gewälzt und ein paar alte Bücher hervorgekramt, die meinem Vater gehörten, und ich habe Geschichtsbücher über die Gegend hier gelesen. Aber nirgends finde ich einen Hinweis darauf, wo sich der Berg der Brüder befindet. Die Tage und Nächte lösen sich voneinander. Ich spüre, wie die Säume brüchig werden. Jede Minute lässt mich wissen, dass möglicherweise gerade etwas geschieht, was ich richtig stellen muss, verändern - oder aufhalten.
    Wir spielen Karten.
    Ich war noch ein paarmal in der Edgar Street, aber dort ist alles ruhig. Der Mann ist immer noch nicht zurückgekehrt. Ich glaube nicht, dass er jemals wiederkommt.
    Ich beobachte die Mutter und das Mädchen, die beide glücklich wirken. Ich belasse es dabei.

    An einem Abend besuche ich Milla und lese ihr vor.
    Sie freut sich sehr, mich zu sehen, und ich muss gestehen, dass es ein schönes Gefühl ist, wieder einmal Jimmy zu sein. Ich trinke Tee und küsse Millas faltige Wange, als ich gehe.
    Am Samstag schaue ich Sophie beim Wettkampf zu. Sie läuft immer noch als Zweite über die Ziellinie, aber sie bleibt sich selbst treu und trägt keine Schuhe. Sie sieht mich und nickt. Wir wechseln keine Worte, denn sie ist mitten im Rennen. Ich stehe hinter dem Zaun neben der Zielgeraden. In der Sekunde, als sie vorbeiläuft, grüßen wir einander, und das ist genug.
    »Ich vermisse dich, Ed«, höre ich sie noch sagen, an jenem Nachmittag im Park. Selbst heute versichert mir ihr Gesichtsausdruck im Vorbeirennen: Ich bin froh, dass du gekommen bist.
    Auch ich bin froh, aber ich gehe, sobald das Rennen zu Ende ist.
    In dieser Nacht, während meiner Schicht, geschieht es.
    Ich finde den Berg der Brüder.
    Oder, um ehrlich zu sein.
    Er findet mich.
     
     
    Ich bin in der Stadt unterwegs und halte Ausschau nach Alice, besonders in der Nähe der großen Hotels. Aber ich entdecke sie nirgends, was ein bisschen enttäuschend ist. An diesem Abend steigen nur alte Männer ein, die immer einen kürzeren oder besseren Weg zu ihrem Ziel wissen, oder geleckte Geschäftsleute, die ständig auf die Uhr schauen oder telefonieren.
    Es ist spät geworden. Gegen vier Uhr morgens winkt
mich ein junger Mann herbei. Ich bin schon auf dem Heimweg. Ich betrachte ihn prüfend. Er sieht ganz anständig aus, nicht wie ein Besoffener. Das Letzte, was ich brauche, ist jemand, der mir kurz vor Feierabend das Taxi voll kotzt. Das kann einem innerhalb weniger, zutiefst bedauernswerter Sekunden die ganze Nacht ruinieren.
    Ich halte an und er steigt ein.
    »Wohin?«, frage ich.
    »Fahr einfach los.« Seine Stimme ist drohend, vom ersten Moment an. »Fahr mich nach Hause.«
    Ich bin nervös, spreche aber weiter: »Wo sind Sie denn zu Hause?«
    Er dreht sich zu mir und schaut mich rätselhaft an. »Wo du wohnst.« Seine Augen sind von einem seltsamen Gelb, wie die Augen einer Katze. Kurze schwarze Haare. Schwarze Klamotten. Und drei weitere Worte: »Fahr los, Ed.«
    Natürlich tue ich, was er mir sagt.
    Er kennt meinen Namen, und ich weiß, dass er mich dorthin bringen wird, wo mich das Kreuz-Ass haben will.
    Eine Zeit lang fahren wir schweigend dahin, schauen zu, wie sich die Lichter uns entgegenneigen. Er sitzt auf dem Beifahrersitz, und jedes Mal wenn ich ihn anschauen will, versage ich. Ich kann ständig diese Augen spüren. Sie scheinen

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