Der Judas-Code: Roman
Nasser würde seine Eltern töten. Er würde keinen Moment länger warten. Er würde Gray bestrafen und sich eine neue Strategie überlegen.
Fünf Stunden.
»Wir müssen ihm mehr bieten als den zweiten Schlüssel, den wir hier gefunden haben«, sagte er. »Sogar noch mehr als den dritten Schlüssel.«
Seichan nickte.
Gray starrte Seichan an. »Bis dahin müssen wir das Rätsel des Obelisken gelöst haben. Wir brauchen Marcos Karte.«
Seichan erwiderte schweigend seinen Blick.
Gray wusste, was er zu tun hatte. Er drehte das Handy um. Mit beinahe tauben Fingern fummelte er am Akkufach herum.
Vigor legte die Hand auf Grays Finger. »Sind Sie sicher?«
Er hob den Blick. »Nein... bin ich nicht. Nicht im Geringsten.« Er schob Vigors Hand weg und nahm den Akku heraus. Das Klingeln brach plötzlich ab. »Das heißt aber nicht, dass ich handlungsunfähig wäre.«
Gray wandte sich Seichan zu. »Was nun?«
»Sie haben Nasser soeben den Fehdehandschuh hingeworfen. Jetzt wird er seine Gefolgsleute anrufen. Uns bleiben ein, zwei Minuten.« Sie zeigte in die Kirche hinein. »Dorthin müssen wir. Kowalski hat einen Wagen. Er erwartet uns am Ostausgang.«
Sie übernahm die Führung. Im Kirchenschiff irrten verwirrte, schreiende Menschen umher. Die Polizeisirenen klangen jetzt ganz nah. Seichan fischte etwas aus der Tasche.
»Am Ausgang sind bestimmt ebenfalls Heckenschützen postiert«, sagte Gray.
Seichan hielt etwas in der Hand. »Eine Blendgranate. Wir zünden sie in die Mitte des Raums. Wenn die Menschen nach draußen flüchten, schlüpfen auch wir unbemerkt ins Freie.«
Gray runzelte die Stirn.
Als sie an einer Gruppe von Schulkindern vorbeikamen, die sich ängstlich zusammendrängten, äußerte Vigor Bedenken. »Wenn die Heckenschützen uns sehen, werden sie das Feuer eröffnen, ohne auf die Leute Rücksicht zu nehmen.«
»Das ist unsere einzige Chance.« Seichan wurde schneller. »Wir müssen die Gelegenheit nutzen. Nassers Männer sind vielleicht schon...«
Ein Schuss dröhnte.
Die Kugel schwirrte an Grays Ohr vorbei. Ein Wandmosaik wurde von einem Schauer goldener Splitter überzogen.
Die Menschen spritzten in Panik auseinander.
Vigor wurde angerempelt und ging in die Knie. Gray zog ihn hoch, als der zweite Schuss eine Marmorsäule traf. Der laute Knall hallte in der Kirche wider.
In geduckter Haltung rannten sie Seite an Seite durchs Kirchenschiff. Als sie in der Mitte angelangt waren, schickte Seichan sich an, die Blendgranate zu entsichern.
Gray packte ihre Hand. »Nein.«
»Anders geht es nicht. Wir wissen nicht, ob da draußen nicht
noch weitere Bewaffnete sind. Wir müssen uns in der flüchtenden Menge verstecken.«
Und wenn wir entdeckt werden, dachte er, wie viele Unschuldige müssen dann sterben?
Er hob den Arm. »Es gibt noch einen anderen Weg.«
Gefolgt von Vigor, zerrte er Seichan zur Südseite, zu dem Baugerüst, auf dem er bereits herumgeturnt war.
»Da hoch!«, sagte er.
Ein Hindernis allerdings galt es noch zu überwinden.
Der Wachmann hatte seinen Posten nicht verlassen und kauerte mit angelegtem Gewehr hinter einer Schutzwand aus Holz.
Gray nahm Seichan die Blendgranate aus der Hand, entsicherte sie und schleuderte sie hinter die Schutzwand. »Augen zu!«, rief er Vigor zu und zog den Monsignore auf den Boden nieder. »Ohren zuhalten.«
Auch Seichan ging in die Hocke und schlang die Arme um den Kopf.
Die Explosion fühlte sich an wie ein Tritt in den Bauch. Ein gewaltiges Dröhnen, gefangen im Stein. Der Lichtblitz durchdrang Grays Augenlider, obwohl er den Kopf abgewendet hatte.
Dann war es vorbei.
Gray riss Vigor hoch. Die Schreie der Menschen wurden gedämpft durch das Klingeln in seinen Ohren. Er rannte auf das hohe Baugerüst zu. Die Besucher spritzten vor ihm auseinander, flüchteten zu den Ost- und Westausgängen.
Gray aber hatte nicht vor, sich ihnen anzuschließen.
Der Wachposten lag benommen auf dem Rücken und stöhnte laut.
Er würde schlimme Kopfschmerzen bekommen, doch ansonsten war er unverletzt.
Gray nahm ihm das Gewehr ab und scheuchte Seichan und Vigor das Gerüst hoch. Sie mussten sich beeilen. Das Chaos würde die Bewaffneten nur vorübergehend aufhalten.
Er kletterte Seichan und Vigor hinterher.
»Wohin wollen wir?«, rief Seichan zu ihm herunter. »Hier oben sitzen wir doch auf dem Präsentierteller!«
»Weiter!«, erwiderte Gray. »Schafft euren Arsch da rauf!«
Sie hetzten die Treppen hoch.
Als sie sich auf halber Höhe befanden,
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