Der Judas-Code: Roman
waren in der Pistole, die er ihrem Bewacher abgenommen hatte, noch drei Schuss Munition. Harriet versuchte, sich an der kleinsten Hoffnung festzuklammern. Weiter unten bellten jedoch die Hunde. Annishen suchte systematisch eine Etage nach der anderen ab. Sie wusste genau, dass sie hier irgendwo waren. Hin und wieder rief sie nach ihnen, um sie zu verhöhnen.
Sämtliche Ausgänge waren bewacht. Selbst die Feuerleitern. Die Nachbargebäude lagen zu weit weg. Die ganze Gegend wirkte verlassen. Nur in der Ferne gab es ein paar Lichter. Ihre Hilferufe hätte niemand gehört. Sie hatten ein paar verstaubte Wandtelefone ausprobiert, doch die Leitungen waren alle tot.
Wie bei einem Hochhausbrand blieb ihnen nichts anderes übrig, als immer höher zu klettern. Über ihnen war nur noch eine einzige Etage. Und das Dach.
Harriet hörte ein Schlurfen, dann trat ihr Mann aus der Dunkelheit hervor, bekleidet nur mit der Unterhose, in der Hand die Pistole. Er humpelte ihr entgegen.
»Was machst du noch hier?«, zischte er. Sein Gesicht glänzte von Schweiß. Ihr war bewusst, dass er mit seiner Schroffheit seine Besorgnis kaschieren wollte. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nach oben gehen.«
»Nicht ohne dich.«
Seufzend legte er ihr den Arm um die Hüfte. »Also, gehen wir.«
Über eine schmale Hintertreppe stiegen sie zur obersten Etage hoch. Vor langer Zeit hatte jemand einen Müllcontainer die Treppe hinuntergestoßen, der den Zugang von den unteren Etagen versperrte.
Eigentlich hätten sie einstweilen sicher sein sollen.
Ein leises Knurren entlarvte diese Hoffnung jedoch als Täuschung.
Vom Treppenabsatz unterhalb des Containers drang ein Scharren herauf.
Sie erstarrten.
»Na, was schnupperst du da, mein Mädchen?«, brummte jemand. Schritte näherten sich dem Treppenabsatz. Eine Taschenlampe leuchtete zu ihnen hoch.
Harriet und Jack drückten sich an die Wand.
Das Knurren wurde lauter.
»Geh da hoch. Na los. Zwäng dich hier durch.«
Jack schob Harriet zur Treppe. Leise stiegen sie nach oben.
Das Knurren hatte einem lauten Schnaufen Platz gemacht, untermalt vom heftigen Scharren der Pfoten.
»Lauf schon«, sagte der Mann. »Scheuch sie auf. Ich geh außen rum.« Die Stimme entfernte sich aus dem Treppenhaus. Offenbar suchte der Mann eine andere Treppe. Ein Funkgerät rauschte kurz, dann sprach er gedämpft hinein.
Die Hunde würden bald hier sein.
Während Harriet und Jack zur Tür des nächsten Treppenabsatzes eilten, ertönte unter ihnen scharfes, triumphierendes Gebell. Etwas Großes tappte die Treppe hoch.
»Lauf, Harriet!«, drängte Jack.
Sie rannte weiter und erreichte den nächsten Absatz. Die Tür zur obersten Etage war geschlossen. Jack, der hinter ihr zurückgeblieben war, verfehlte im Dunkeln eine Stufe und stürzte. Er rutschte zwei Stufen nach unten. Die Pistole wurde dabei auf den Treppenabsatz geschleudert und landete direkt vor Harriets Füßen. Sie hob die Waffe eilig auf. Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkte sie hinter dem Fenster der Treppenhaustür ein Licht.
Die Lichtkegel von Taschenlampen schwenkten durch die Dunkelheit.
»Wir suchen die Etage ab und arbeiten uns dann nach oben vor!«, rief Annishen. »Scheucht sie aus ihrem Versteck.«
Harriet drehte sich um. Jack krabbelte auf sie zu. Hinter ihm bog ein dunkler Schatten um den Treppenabsatz herum und setzte ihm nach. Der Hund knurrte bedrohlich.
Harriet hob die Pistole. Wenn sie abdrückte, würde Annishen
den Schuss hören. Dann würden die Bewaffneten in Sekundenschnelle hier sein.
Sie zögerte einen Moment zu lange.
Mit einem bösartigen Knurren sprang der Hund ihren Mann an.
07:58
Angkor Thom
Seichan beobachtete, wie Gray um den Hauptaltar herumging.
Es hatte fast zwanzig Minuten gedauert, bis sie nach mehreren Versuchen den Weg zur dritten Ebene des Bayon gefunden hatten, wo das Heiligtum lag. Das vier Hektar große Gelände war ein Labyrinth düsterer Galerien, sonnenbeschienener Höfe, niedriger Durchgänge und fast senkrecht abfallender Wände. An den niedrigen Decken stieß man sich den Kopf, manche Wege konnten sie nur im Gänsemarsch bewältigen oder mussten sich sogar an den Wänden entlangdrücken. Viele Gänge endeten in einer Sackgasse.
Als sie das kleine Heiligtum erreichten, waren sie alle mit Staub bedeckt und völlig durchschwitzt. Es war bereits drückend schwül. Jedenfalls hatten sie ihr Ziel erreicht.
»Hier ist nichts«, brummte Nasser mürrisch.
Seichan kannte diese Stimmung. Seine
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