Der Judas-Code: Roman
löste sich die Bronzeschraube. Ihr Gewicht versetzte Vigor und Lisa in Erstaunen. Mit einem glockenartigen Geräusch fiel sie auf die Treppe.
Kowalski kam mit Susan die Stufen hochgestürmt. Sie schien bewusstlos. Als Kowalski sah, dass die Tür noch immer geschlossen war, verdüsterte sich seine Miene. »Was habt ihr eigentlich die ganze Zeit gemacht?«
»Auf Sie gewartet«, entgegnete Vigor und drückte gegen die Steinplatte.
Da die Schraube entfernt war, fiel die Tür nach außen und krachte auf den Boden. Sonnenlicht strömte herein und wurde von den Steinwänden reflektiert. Lisa war nahezu geblendet, als sie mit Vigor ins Freie stolperte und Kowalski und Susan den Weg frei machte.
Kowalski zog den Kopf ein und trat durch die Öffnung. »Ich dachte, Seichan hätte schon dagegengedrückt. Zum Teufel mit ihren mageren Ärmchen.«
Lisa streckte sich blinzelnd. Sie befanden sich am Grund eines tiefen steinernen Brunnens mit einem Durchmesser von etwa fünf Metern. Die senkrechte Wand ragte zwei Stockwerke hoch auf. Eine Leiter gab es nicht.
Kowalski legte Susan neben der Tür auf dem Boden ab. »Doc, ich glaube, sie atmet nicht mehr.«
Lisa besann sich ihrer ärztlichen Pflichten und kniete neben Susan nieder. Für heute hatte sie schon genug Tote gesehen. Sie tastete Susan den Puls ab, spürte aber keinen Herzschlag. Trotzdem wollte sie nicht aufgeben.
»Kann mir mal jemand helfen?«, rief sie.
Gray und Seichan humpelten aus der Öffnung hervor. Gray blickte Susan an. »Lisa... sie ist tot.«
»Nein. Damit will ich mich nicht abfinden.«
»Ich helfe Ihnen«, murmelte Seichan.
Lisa sah, dass ihre Bluse und Hose frische Blutflecken aufwiesen.
Seichan bemerkte ihren Blick. »Es geht schon.«
Gray wies sie an, sich möglichst leise zu verhalten - für den Fall,
dass Nassers Männer in der Nähe waren. Mit Handzeichen forderte er sie auf, sich von der Tür fernzuhalten. Sein Gesicht und seine Arme waren voller Blasen, seine Augen blutunterlaufen.
An der anderen Seite der Tür begann Lisa mit der Herzdruckmassage, während Seichan die Mund-zu-Mund-Beatmung übernahm. Vigor schlug über Susan das Kreuz.
»Das ist hoffentlich nicht so was wie die Letzte Ölung«, flüsterte Lisa, während sie mit beiden Ellbogen rhythmisch drückte.
Vigor schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nur gesegnet...«
Die Bombe explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, der Boden bebte. Eine stinkende, glühend heiße und mit beißenden Dämpfen angereicherte Druckwelle schoss von unten herauf.
Lisa beugte sich schützend über Susan.
Das meiste zog durch den Brunnenschacht nach oben ab.
»Das ging ja noch«, meinte Kowalski.
Gray blickte in die Höhe. »Alle festhalten.«
Lisa, die unermüdlich Susans Brustkorb bearbeitete, hob ebenfalls den Blick.
Am linken Rand der Brunnenöffnung sah sie die obere Hälfte des Mittelturms des Bayon-Tempels. Steingesichter blickten auf sie nieder. Sie bebten.
»Der Turm stürzt ein!«, sagte Gray.
12:16
Mit sechs seiner Männer rannte Nasser über den Hof der zweiten Ebene. Jeder einzelne Schritt tat höllisch weh. Sein ganzer Körper brannte, als hielte ihn die Teufelsfrau noch immer umklammert. Doch es gab drängendere Sorgen.
Er duckte sich hinter eine Galeriemauer und blickte sich um.
Der Bayon-Tempel erbebte - dann fiel er wie in Zeitlupe in sich zusammen. Er implodierte und verlor unter lautem Grollen ein Viertel seiner Höhe. Das Todesröcheln von hundert Bodhisattvas. Eine Staubwolke stieg um den Trümmerhaufen herum in die Luft. Steinblöcke lösten sich und rollten polternd in die Tiefe.
Der Sprengstoffexperte hatte ihn gewarnt, die Ladung sei vielleicht
zu groß. Nasser aber hatte unter allen Umständen verhindern wollen, dass Commander Pierce mit der Beute entwischte.
Als er sich umdrehte, bemerkte er neben dem Turm eine zweite Staubwolke. Wie ein Rauchzeichen stieg sie in die Höhe.
Nasser kniff die Augen zusammen.
Sollte es etwa einen weiteren Höhlenausgang geben?
12:17
Gray hustete; der Staub war so dicht, dass er im Brunnenschacht kaum mehr etwas sah. Der Turm hatte die Höhle zum Einsturz gebracht. Eine beißende Rauchwolke schraubte sich im Brunnenschacht in die Höhe.
Gray wischte sich die Augen und drehte sich zum Höhlenausgang um. Steinbrocken verstopften den schmalen Treppengang, dessen Decke eingestürzt war.
Gray lehnte sich mit der Schulter an die Schachtwand und blickte nach oben. Sie hatten Glück gehabt, dass der Brunnen nicht ebenfalls
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