Der Judas-Code: Roman
auf. Der Name des Patienten lautete John Doe. Sie überflog die knappe Krankengeschichte. Der Patient war Ende sechzig und fünf Wochen zuvor aufgegriffen worden, als er nackt im Regenwald herumirrte. Er war dement gewesen und von den Folgen der Nacktheit gezeichnet. Er konnte nicht sprechen und war stark dehydriert. Kurz darauf trat er in einen infantilen Zustand ein, vermochte sich nicht mehr selbst zu helfen und musste gefüttert werden. Man hatte sich bemüht, ihn mittels Fingerabdruck zu identifizieren, und die Liste der vermissten Personen durchgearbeitet, jedoch ohne Erfolg. Somit blieb es bei John Doe.
Lisa schaute hoch. »Ich verstehe nicht... Was hat das mit der gegenwärtigen Katastrophe zu tun?«
Lindholm trat seufzend neben sie und tippte auf die Krankenakte. »Schauen Sie sich mal die Liste der Symptome und Untersuchungsergebnisse an. Ganz unten.«
»Mäßige bis schwere Anzeichen von Sonnenbrand«, las sie halblaut vor. In der letzten Zeile hieß es: Sonnenbrand zweiten Grades an den Waden mit resultierenden Ödemen und starker Blasenbildung.
Lisa hob den Kopf. Ähnliche Symptome hatte sie den ganzen Morgen über behandelt. »Das war kein normaler Sonnenbrand.«
»Die Inselärzte haben sich auf die erstbeste Erklärung gestürzt«, meinte Lindholm mit unverhohlener Geringschätzung.
Lisa vermochte ihnen und den Krankenschwestern keinen Vorwurf zu machen. Damals hatte noch niemand geahnt, dass sich eine Katastrophe anbahnte. Sie sah noch einmal aufs Datum.
Vor fünf Wochen.
»Ich glaube, wir haben Patient Nummer null entdeckt«, erklärte Lindholm wichtigtuerisch. »Oder zumindest einen der ersten Krankheitsfälle.«
Lisa klappte den Aktenordner zu. »Kann ich ihn mal sehen?«
Lindholm nickte. »Das ist der zweite Grund, weshalb ich zu Ihnen heruntergekommen bin.« In seinem Tonfall lag ein grimmiges Schwanken, das Lisa aufhorchen ließ. Sie wartete auf eine Erklärung, doch stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte los. »Folgen Sie mir.«
Der WHO-Einsatzleiter näherte sich einem der Aufzüge. Er drückte den Knopf zum Promenadendeck, der dritten Schiffsebene.
»Zur Isolierstation?«, fragte Lisa.
Lindholm zuckte mit den Schultern.
Kurz darauf öffnete sich die Tür. Dahinter lag ein Reinraum. Lindholm forderte sie auf, einen ähnlichen Schutzanzug anzulegen, wie Monk ihn beim Probensammeln benutzte.
Lisa stieg in den schwach müffelnden Anzug, zog die Kapuze über den Kopf und dichtete ihn ab. Dann führte Lindholm sie über einen Gang zu einer Kabine. Die Tür stand offen, mehrere Ärzte drängten sich im Eingang.
Lindholm befahl ihnen barsch, den Weg freizumachen. Die Ärzte, die es gewohnt waren, ihrem Vorgesetzten aufs Wort zu gehorchen, zerstreuten sich. Lindholm betrat vor Lisa die fensterlose Innenkabine. Das Bett stand an der gegenüberliegenden Wand.
Unter einer dünnen Decke lag eine Gestalt. Der Mann wirkte mehr tot als lebendig, allerdings hob und senkte sich die Decke, und man hörte seinen keuchenden Atem. Infusionsschläuche führten zu seinem Arm, der unter der Decke hervorschaute. Die Haut war so blass, dass sie nahezu durchscheinend wirkte.
Lisa sah dem Mann ins Gesicht. Jemand hatte ihn rasiert, allerdings zu hastig. Einige Schnitte nässten noch. Sein Haar war grau und dünn, wie bei einem Chemopatienten, doch er hatte die Augen geöffnet und sah sie an.
Sie meinte, einen Schimmer von Wiedererkennen wahrzunehmen. Er schob ihr sogar ein Stück weit die Hand entgegen.
Lindholm aber trat dazwischen. Ohne den Patienten zu beachten, schlug er die untere Hälfte der Decke zurück und entblößte die Beine des Mannes. Lisa hatte erwartet, die für eine in Heilung begriffene Verbrennung zweiten Grades, wie sie sie den ganzen
Tag über behandelt hatte, typische schorfige Haut zu sehen, doch stattdessen erblickte sie eine mit schwarzen Blasen gesprenkelte purpurfarbene Quetschung, die von der Leistengegend bis zu den Zehen reichte.
»Hätten Sie den Bericht bis zu Ende gelesen«, sagte Lindholm, »wüssten Sie bereits, dass die neuen Symptome vor vier Tagen aufgetaucht sind. Das Krankenhauspersonal hat tropischen Wundbrand vermutet, wie er manchmal nach schweren Verbrennungen auftritt. Aber es handelt sich um...«
»Nekrotisierende Fasciitis«, beendete Lisa den Satz.
Lindholm schnaubte und deckte die Beine des Patienten wieder zu. »Genau. Das haben wir vermutet.«
Nekrotisierende Fasciitis, besser bekannt unter dem Namen Fleischessenkrankheit,
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