Der Judas-Code: Roman
Gilde wusste, dass sie sich in der Altstadt von Istanbul aufhielten, kannte aber nicht ihre genaue Position.
Jedenfalls bis jetzt noch nicht.
Gray blickte über den nahe gelegenen Park hinweg zu der gewaltigen Hagia Sophia mit ihrer riesigen Kuppel hinüber, die von vier spitzen Minaretten umgeben war.
»Was machen Sie in der Hagia Sophia?«, fragte Nasser.
Gray überlegte, wie viel er preisgeben sollte. Es musste überzeugend klingen, und das erreichte man am besten dadurch, dass man ein wenig Wahres einfließen ließ. »Wir suchen nach Marco Polos Schlüssel. Monsignor Verona hat die Schrift aus dem Vatikan entziffert. Sie hat uns hierhergeführt.«
»Dann hat Seichan Ihnen also gesagt, wo Sie suchen müssen.« Ein weiterer Fluch. »Dafür, dass Sie sie haben entwischen lassen, werde ich Sie lehren, wie ernst wir es meinen.«
Gray wusste, dass Nasser auf seine Eltern anspielte.
»Seichan ist unwichtig«, entgegnete er scharf. Er war entschlossen, seine Eltern so gut es ging zu schützen. »Ich habe, wonach Sie suchen. Den Engelscode vom ägyptischen Obelisken. Ich habe eine Kopie.«
Nasser schwieg. Gray stellte sich vor, wie er erleichtert die Augen schloss. Nasser brauchte die Engelschrift. Sein Wunsch, Seichan zu bestrafen, trat demgegenüber in den Hintergrund.
»Ausgezeichnet, Commander Pierce.« Die Anspannung war aus seiner Stimme verschwunden. »Wenn Sie weiter kooperieren, wartet auf Ihre Eltern ein glücklicher, ruhiger Lebensabend.«
Gray wusste, dass dieses Versprechen ebenso dünn war wie die Luft, die er atmete.
»Wir treffen uns Punkt neunzehn Uhr in der Hagia Sophia«, sagte Nasser. »Suchen Sie meinetwegen nach Polos Schlüssel. Aber denken Sie daran, dass wir Scharfschützen an den Ausgängen postiert haben.«
Gray verkniff sich ein höhnisches Grinsen.
»Und noch was, Commander Pierce. Für den Fall, dass Sie uns reinlegen wollen, habe ich mit Annishen verabredet, mich stündlich bei ihr zu melden. Sollte ich mich auch nur um eine Minute verspäten, wird sie sich als Erstes die Zehen Ihrer Mutter vornehmen.«
Es knackte in der Leitung.
Gray klappte Vigors Handy zu. »Wir müssen zur Hagia Sophia, bevor die Gildenleute unsere genaue Position bestimmt haben.«
Sie sammelten ihre Sachen ein.
Gray wandte sich an Seichan. »Das war riskant.«
Seichan zuckte mit den Schultern. »Gray, wenn Sie lebend aus dieser Sache herauskommen wollen, dürfen Sie die Gilde nicht unterschätzen. Sie ist mächtig und hat viele Verbündete. Aber Sie sollten sie auch nicht überschätzen. Die Gilde wird sich Ihr Ohnmachtsgefühl zunutze machen und versuchen, Ihre Kampfmoral zu schwächen. Konzentrieren Sie sich. Seien Sie vorsichtig, aber gebrauchen Sie Ihren Verstand.«
»Und wenn es nicht funktioniert hätte?«, erwiderte Gray mit einem Anflug von Verärgerung.
Seichan legte den Kopf schief. »Aber es hat funktioniert.«
Gray atmete schnaubend aus, darum bemüht, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Wenn Seichan sich verrechnet hätte, wären seine Eltern die Leidtragenden gewesen.
»Außerdem«, sagte Seichan, »habe ich eine Ausrede dafür gebraucht, dass ich nicht dort sein werde, wenn Nasser eintrifft. Er wird Sie und Monsignor Verona am Leben lassen. Sie sind beide nützlich für ihn. Und da er Ihre Eltern als Geiseln hat, wird Nasser glauben, Sie wären gefügig wie ein zugerittenes Pferd. Mich aber würde Nasser auf der Stelle erschießen. Das heißt, falls ich Glück hätte. Deshalb brauchte ich eine Ausstiegsstrategie, die mir einerseits das Überleben sichert und mir andererseits die Möglichkeit eröffnet, selbstständig tätig zu werden. Damit ich Ihnen weiterhin helfen kann.«
Gray bekam seinen Zorn endlich unter Kontrolle. Es waren nicht Seichans Eltern, die in Gefahr waren. Ihr fiel es leichter, unbekümmert zu handeln und Risiken einzugehen. Sie hatte kaltblütig eine Entscheidung getroffen und rasch gehandelt. Das würde ihnen allen zugutekommen.
Aber trotzdem...
Seichan wandte sich ab und hob den Zeigefinger. »Außerdem brauche ich diesen Typ.«
»Wen? Mich?«, fragte Kowalski.
»Wie ich schon sagte, Nasser würde mich auf der Stelle erschießen. Kowalski wahrscheinlich ebenfalls.«
»Warum gerade mich?« Die Gesichtszüge des Hünen erschlafften. »Was zum Teufel habe ich ihm getan?«
»Sie sind nutzlos.«
»Hey!
Seichan ignorierte seinen Gefühlsausbruch. »jetzt, da Mr. und Mrs. Pierce in seiner Hand sind, braucht Nasser keine weiteren Geiseln. Es
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