Der Judas-Code: Roman
lassen«, sagte er finster.
»Und wer würde Ihnen dann den Rücken freihalten, Gray? Auf wessen Unterstützung können Sie hier zählen? Auf Kowalski? Allein wären Sie besser dran. Sie haben nur mich. Und das wär’s auch schon. Also lassen Sie uns das Ganze vergessen. Entweder wir streiten uns weiter und lassen die Zeit, die Ihnen bleibt, um Sigma anzurufen, verstreichen, oder wir klären das später.«
Sie nickte zur Tür hin. »In der Lobby ist eine Telefonzelle. Das ist einer der Gründe, weshalb ich wollte, dass Nasser glaubt, wir wären woanders. Inzwischen überwacht er wahrscheinlich sämtliche öffentlichen Telefone in der Hagia Sophia. Das in der Lobby sollte noch sicher sein. Soweit man das überhaupt sagen kann. Und Sie sollten sich kurz fassen. Die Zeit wird knapp.«
Gray ließ ihren Arm los und stieß sie weg.
Abermals wirkte sie für einen Moment verletzt.
Soll sie nur.
Hätte er gewusst, dass es keinen Maulwurf gab, hätte er gleich zu Anfang Kontakt mit Painter aufgenommen. Dann hätte er veranlassen können, dass wenigstens seine Eltern aus der Gefahrenzone gebracht worden wären.
Seichan ahnte den Grund für seine Verärgerung. Sie wischte sich über das Gesicht. Ihre Stimme klang weicher als zuvor und todmüde. »Ich habe fest geglaubt, ihnen würde nichts passieren, Gray. Ganz ehrlich.«
Gray lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch er brachte kein Wort heraus. Einerseits weil er wütend war, doch vor allem deshalb, weil er seine eigenen Schuldgefühle nicht auf Seichan abladen durfte.
Es hatte keinen Sinn, die Wahrheit zu leugnen.
Er hatte seine Eltern im Stich gelassen.
Er und niemand sonst.
03:04
Washington, D. C.
»Direktor Crowe, ich habe einen Anruf aus Istanbul für Sie.«
Painter riss den Blick von den Satellitenmonitoren los und sah den Cheffunker an. Wer meldete sich da aus Istanbul?
In der vergangenen Stunde hatte er sich mit den Verantwortlichen der Nationalen Aufklärungsbehörde NRO und der Nationalen Sicherheitsbehörde um den uneingeschränkten Zugang zum Satellitenüberwachungssystem ECHELON und die Erlaubnis gestritten, um die Weihnachtsinsel herum eine Suche durchführen zu dürfen. Dieses abgelegene, dünn besiedelte Gebiet war jedoch in eine niedrige Sicherheitskategorie eingestuft und stand nicht unter ständiger Beobachtung. Schließlich hatte er sich ans Ausland gewandt und die Verantwortlichen des Horchpostens der australischen Streitkräfte in Pine Gap dazu überredet, einen ihrer Satelliten auf das fragliche Gebiet auszurichten. Allerdings würde es noch vierzehn Minuten dauern.
»Der Anruf ist von Commander Pierce, Sir«, sagte der Cheffunker und reichte ihm den Hörer.
Painter schwenkte den Drehstuhl herum. Verdammt noch mal. Er nahm den Hörer entgegen. »Gray? Hier ist Direktor Crowe. Wo stecken Sie?«
Die Stimme klang leise. »Sir, ich stehe unter Zeitdruck und habe Ihnen eine Menge mitzuteilen.«
»Ich höre.«
»Erstens, meine Eltern wurde von einem Agenten der Gilde gekidnappt.«
»Von Amen Nasser. Das wissen wir. Die Fahndung läuft.«
Gray schwieg überrascht, dann fuhr er fort: »Außerdem müssen Sie mit Monk und Lisa sprechen. Sie sind in Gefahr.«
»Ist uns bekannt. Ich starte soeben eine Satellitenüberwachung. Nachdem Sie mir jetzt alles gesagt haben, was ich bereits weiß, wie wär’s dann, wenn Sie am Anfang beginnen würden?«
Gray atmete tief durch und berichtete in knappen Worten, was seit Seichans unerwartetem Auftauchen geschehen war. Painter stellte ein paar Fragen, dann fügten sich die Bruchstücke zusammen wie bei einem Puzzle. Während er auf die Antwort der NSA gewartet hatte, waren ihm ein paar Erkenntnisse gekommen. Er hatte bereits vermutet, dass die Gilde an dem Vorfall vor der Weihnachtsinsel beteiligt war. Wer sonst verfügte über die erforderlichen Mittel, die Bevölkerung einer ganzen Insel zu entführen und sie spurlos verschwinden zu lassen? Gray hatte seine Vermutung bestätigt, sie mit einer Erklärung versehen und ihr sogar einen Namen gegeben.
Der Judas-Stamm.
Vor einer Stunde hatte Painter Dr. Malcolm Jennings aus dem Bett holen lassen und ihn in das Forschungslabor von Sigma beordert. Auf der Rückfahrt vom Ort des Kidnappings zu Sigma hatte er sich die letzten Telefonate mit Lisa vergegenwärtigt. Da sie unter Zwang gestanden hatte, waren ihre Erklärungen allesamt hinfällig. Zum Beispiel die, dass es sich bei der Krankheit, die ihr zunächst solche Sorge bereitet hatte, um einen
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