Der Judas-Schrein
kleiner die Flamme wurde, desto näher kroch das Wesen an ihn heran. Kurzerhand löschte er das Feuerzeug, ließ es in die Manteltasche gleiten und sprang hoch. Ohne etwas sehen zu können, krallte er sich in das Gewächs und zog sich mit einem Klimmzug in den Schacht. Schmerz brannte in seinen Muskeln. Er fand mit den Schuhen Halt, stemmte sich keuchend weiter in den Schacht hinauf, bis er sich mit dem Rücken anlehnen konnte. Ein Lichtkreis zeichnete sich über ihm ab. Körner erkannte die Streben eines Fallgitters. Zugleich spürte er, wie das Gewächs näher kroch und sich um seinen Körper zu ziehen begann. Dieser verdammte Schlund lebte, verengte sich um sein Opfer wie eine Fleisch fressende Pflanze! Körner wurden die Arme an die Seite gepresst. Nur einen knappen Meter über ihm war das Eisengitter, welches in den Hohlraum des Brunnens führte. Körner versuchte seine Arme zu befreien, doch das Geflecht hielt ihn eisern umschlossen. Diese organischen Fesseln wirkten so starr wie das knorrige Gewächs in dem Tunnel, durch den er noch vor wenigen Stunden gekrochen war. Mittlerweile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Der von oben durch das Eisengitter fallende Lichtstrahl ließ ihn die dicken Stränge des Wurzelgeflechts erkennen, die ihn fesselten.
Unterdessen schossen von unten die Fangarme heran. Binnen Sekunden schlug ein entsetzlicher Schwefelgestank herauf, viel intensiver als je zuvor. Die Dämpfe brannten Körner in den Augen und fraßen sich wie Säure in die offenen Wunden seiner Hände. Durch die Nasenwege drang der Dunst in seinen Rachen und legte sich wie ein pelziger Belag auf seinen Gaumen. Neue Tränen liefen ihm über die Wangen. Die Fangarme kamen immer näher. Feuer war seine einzige Rettung.
Körner ballte die Finger zur Faust und schlüpfte mit der rechten Hand durch die Ranken. Mit kreisenden Schulterbewegungen gelang es ihm, den Arm aus dem Geflecht zu winden, bis er ihn frei hatte. Er holte das Zippo aus der Manteltasche und schnippte es an. Die Flamme erlosch schon nach einer Sekunde. Doch dieser Augenblick genügte, damit die Ranken den Druck auf seinen Körper lockerten, wodurch er ein Stück nach unten sackte, bis er mit den Beinen wieder im dichten Geflecht steckte - weiter vom Gitter entfernt als zuvor.
Wieder und wieder schnippte er das Feuerzeug an, doch bis auf einige kurzlebige Funken sprang nichts heraus. Als bemerke das Gewächs seine aussichtslose Lage, begannen sich die Ranken wieder enger um seinen Körper zu ziehen. Bevor er gefesselt in den Flechten hängen blieb, wollte er es so weit wie möglich nach oben schaffen, aber im nächsten Moment waren die Ranken erneut da. Körner riss die Arme in die Höhe, ehe das Gewächs sie umschlingen und an seinen Körper pressen konnte. Da rutschte ihm das Feuerzeug aus der verschwitzten Hand. Im schwachen Lichtschein sah er, wie es über die Ranken sprang und schließlich auf einer schaufelförmigen Wurzel liegen blieb, mehr als eine Armlänge von seinem Gesicht entfernt. Die Wurzelfesseln des Gewächses hatten Körner so unerbittlich im Griff, dass das Zippo unerreichbar für ihn war. Er hätte ebenso gut kilometerweit weg liegen können.
Zuerst spürte er es auf seinen Fußgelenken, den Waden, danach auf seinen Oberschenkeln. Dünne, biegsame Fangarme krochen zwischen den dicken Wurzeln empor, schlängelten sich durch das Geflecht, tasteten sich an seinem Körper entlang. Die Tentakel umgarnten und liebkosten ihn, wie ein Muttertier ihr Junges, ohne sich in seine Wirbelsäule zu bohren, wie es bei Sabriski und den Krajnikkindern geschehen war. Fühlten die scheußlichen Extremitäten etwa den Odem des schwefelhaltigen Gelees, der wie eine Säure im Stoff von Körners Mantel nistete? Doch zuvor hatte sie das nicht abgeschreckt. Oder wussten die Greifarme, dass er ihr hilfloser Gefangener war? Siebenundzwanzig Jahre hatte das Gezücht auf ihn gewartet, ihn mit Albträumen und Visionen an das ihm bestimmte Schicksal erinnert. Feinfühlig und langsam kletterten die Glieder an ihm hoch, als seien sie sich einig, dass sie ihn jetzt endgültig in der Falle hatten, wo sie sich jederzeit an ihm laben konnten.
Beim geringsten Versuch, sich freizustrampeln, um weiter nach oben zu gelangen, zog sich das Geschlinge enger um Körner, bis es ihn zu ersticken drohte. Sauerstoffnot… Müdigkeit… Dunkelheit … endloser Schlaf… Sein Kopf zuckte. Sein Herz raste. Für einen Moment war er weggetreten. Hatte ihn eine Ohnmacht
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