- Der Jünger des Teufels
Sie, welcher Gerichtsmediziner
um die Videoaufnahme von Gemals Hinrichtung gebeten hat?«
»Nein, Sir, weiß ich nicht«, sagte Tate. »Aber die Anfrage müsste von oberster Stelle erfolgt sein. Ich meine , damit einer solchen Bitte stattgegeben wird, müsste schon
der Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts darum gebeten haben, oder? Auf
jeden Fall ein Gerichtsmediziner in verantwortlicher Position.«
»Ja, Sir, das nehme ich an.«
99.
Chinatown,
Washington, D. C.
Stone richtete seine Taschenlampe auf die beiden
flachen Gräber. Der Verwesungsgestank stieg ihm in die Nase. Er hielt sich mit Raines in
einem der Wartungstunnel achtzig Meter von der Metrostation Chinatown auf. Zwei
starke Halogenscheinwerfer beleuchteten den Fundort. In der Nähe war ein Gully,
und da es heute stark regnete, tropfte durch die metallenen Entlüftungsgitter
über ihnen Wasser auf die Schiefersplitter am Boden des Tunnels.
»Sie sind fast einen Meter tief vergraben. Nebeneinander«, sagte
Diaz zu Lou Raines. »Der Täter muss mehr als zehn Zentimeter Schiefergestein
abgetragen und dann fast einen Meter tief gegraben haben, ehe er die Leichen
wieder mit Erde und Schiefer bedeckt hat.«
Lou war in den schaurigen Anblick der beiden skelettartigen
Leichen versunken, die Seite an Seite in ihren flachen Gräbern lagen. In der
Nähe lag ein Haufen verrotteter Lumpen und andere winzige Beweisstücke, die
darauf warteten, eingetütet und untersucht zu werden. Lou betrachtete die
Umgebung und warf einen Blick in beide Richtungen des Tunnels. »Der Boden unter
den lockeren Steinen ist sehr hart. Das Graben muss sehr mühsam gewesen sein.
Der Killer muss Hacke und Schaufel und viel Zeit gehabt haben. Sehr
wahrscheinlich hat er die Leichen vergraben, als keine Wartungsarbeiter in der
Nähe waren und keine U-Bahn fuhr.«
Diaz nickte zustimmend. »Sonst hätte der Killer sich der
Gefahr ausgesetzt, entdeckt zu werden.«
»Haben Sie das Geschlecht der Leichen schon bestimmt?«
Lou schlug seinen Mantelkragen hoch. Er war völlig
durchnässt. Auf dem Weg vom Wagen zur Metrostation war er in einen Platzregen
geraten. Er strich mit der Hand durch sein nasses Gesicht. Die sterblichen
Überreste waren zum größten Teil verwest, doch er nahm an, dass es sich bei
einer Leiche um die eines Erwachsenen und bei der zweiten um die eines
Jugendlichen handelte.
»Ein erwachsener Mann zwischen fünfunddreißig und fünfzig
und eine Jugendliche zwischen fünfzehn und zwanzig. Mehr kann ich dazu nicht
sagen, bis sie bei mir auf dem Tisch liegen«, sagte Diaz. Er zeigte auf die
durchsichtigen Plastikbeutel.
»Ihre Kleidung ist aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit hier
unten größtenteils vermodert, aber mein erster Eindruck ist, dass es sich nicht
gerade um topmodische Kleidung handelt. In der rechten Manteltasche des Mannes
steckte die Empfangsbestätigung eines Wohlfahrtsladens der Baptistengemeinde in
Washington. Sehen Sie?«
Lou kniete sich hin, um einen besseren Blick auf eine der Plastiktüten
werfen zu können, in der ein braun verfärbter, fleckiger Papierfetzen mit
verblasstem Aufdruck lag. Er erkannte das Logo des Wohlfahrtsladens der
Baptisten. Lou war sicher, dass sie Gemals Mordopfer gefunden hatten, und
spürte Wut in sich aufsteigen. »Nur ein teuflisches Monster kommt auf die Idee,
einen Obdachlosen und sein Kind zu ermorden. Möge Gott ihren Seelen gnädig
sein.«
Stone drehte sich zu Diaz um. Dieser trug eine wasserdichte
Nylonhose und eine FBI-Regenjacke mit dem goldenen Emblem auf dem Rücken. Stone
fragte sich, ob Diaz seinen Speedoanzug darunter trug. »Ist dir sonst noch
etwas Interessantes aufgefallen?«
Diaz blinzelte. »Du meinst, abgesehen von der hässlichen Jacke,
die du trägst?«
»Sehr komisch, Armando.«
»Das hier.« Diaz kniete sich hin, eine Pinzette in der
Hand, hob zwei Fetzen aufgeweichten Papiers von dem Berg verrotteter Kleidungsstücke
und legte die Fetzen auf ein weißes Blatt Papier, um sie besser betrachten zu können.
»Was ist das?«, fragte Lou.
»Zwei Quittungen für ein Obdachlosenasyl der Heilsarmee. Sie
bestätigen, dass die beiden Opfer genau eine Nacht, bevor Gemal sie nach
eigenen Worten getötet hat, dort zwei Betten belegt hatten. Was die Tatzeit
angeht, könnte es hinhauen. Der 23. November vor fast fünfzehn Monaten. Müsste Thanksgiving
gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Diaz und tütete die Fetzen
zur weiteren Untersuchung ein.
Lou presste die Kiefer aufeinander, atmete
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