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Der Jünger

Der Jünger

Titel: Der Jünger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Sala
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Blätter und Grashalme von ihrer Kleidung zu zupfen.
    “Tut mir wirklich leid”, sagte er. “Das war meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst, wohin ich gelaufen bin. Mir war nicht klar, dass sich hier ein Joggingpfad befindet. Haben Sie sich wehgetan?”
    January spürte den Sturz, aber es war nicht so schlimm. Sie berührte die Schramme am Ellbogen. Es brannte, konnte aber kaum als ernsthafte Verletzung bezeichnet werden. Etwas zittrig strich sie sich das gelöste Haar aus dem Gesicht und band sich den Pferdeschwanz neu.
    “Nein … Wohl nicht”, erwiderte sie und blickte den Mann, der ihr gegenüberstand, zum ersten Mal richtig an.
    Er war groß und mager. Das Haar trug er lang und hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. In den Siebzigern wäre er wohl als Blumenkind durchgegangen. Aber die Siebziger waren schon lange vorbei, und wenn sie von seinem Akzent absah, hätte sie meinen können, er käme aus dem Mittleren Osten. Sein Hemd und die Hosen waren aus demselben weichen weißen Stoff. Die Kleidung war so geschnitten, dass sie sich seinen Bewegungen fließend anpasste. Sein Lächeln konnte man unter dem Bart nicht erkennen, aber als sie in seine Augen blickte, erstarrte sie. Den Mann hatte sie vorher schon einmal gesehen – aber wo?
    Plötzlich schien sich kein Lüftchen mehr zu bewegen. January hatte das Gefühl, neben ihrem Körper zu schweben und die Situation von außen zu beobachten. Ihr Puls hämmerte laut in den Ohren, genauso wie das schrille Geschnatter eines Eichhörnchens auf einem Baum in der Nähe. Seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Sie konnte keine Pupillen darin erkennen und auch keine Gefühle, fast so, als wäre eine große Leere dahinter.
    Seelenlos.
    Sie erschrak, als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss. Schnell trat sie einen Schritt zurück und legte die Arme um sich, als müsse sie sich vor einem kalten Luftzug schützen.
    Während sie ihn anstarrte, wurde das Lächeln des Mannes noch breiter. “Ich weiß, wer Sie sind”, sagte er freundlich. “Sie sind diese Fernsehreporterin. January DeLena, oder?”
    “Ja. Ja, die bin ich, und ich komme zu spät zur Arbeit.”
    “Natürlich.” Der Mann schloss die Augen, hob beide Arme und begann laut und mit sonorer Stimme zu beten. “Segne diese Frau, Vater, denn sie tut Gutes in Deinem Namen. Amen.”
    Zweifellos war der Mann nicht ganz normal. Trotzdem hätte sie sein Gebet nicht aus der Fassung bringen sollen, aber aus irgendeinem Grund, der ihr nicht einfiel, war es so. Als er seine Lobpreisung beendet hatte und die Augen wieder aufschlug, war sie ein Stück zurückgewichen.
    “Sie fürchten sich”, sagte er sanft.
    “Nein, nein, das stimmt nicht”, entgegnete January, doch das war eine Lüge, und es ärgerte sie, dass er es merkte. “Ich muss wirklich los.”
    Sie drehte sich abrupt um und begann zu rennen – raus aus dem Park, durch die Nachbarschaft, zurück zu ihrem Haus, in ihre Wohnung. Sie sah sich kein einziges Mal um.
    Es störte sie nicht, dass er sie erkannt hatte. Das passierte ihr ständig. Doch was sie nervös machte, war dieses Gefühl, ihm früher schon einmal begegnet zu sein und nicht zu wissen, wann und wo.
    January stand unter der Dusche, hatte gerade ihr Haar gewaschen und ließ sich das Wasser ins Gesicht sprühen, als die Erinnerung zurückkam.
    An dem Abend, als sie in der Altstadt gewesen war, um mit der obdachlosen Frau zu reden – wie hieß sie noch mal? Ach ja, Marjorie. Ein Mann war ihr im Regen vor das Auto gelaufen. An den erinnerte sie dieser Verrückte im Park. Aber das konnte sicher nicht derselbe gewesen sein. Das wäre doch mehr als ein Zufall.
    Das Merkwürdige an dem Mann im Park war, dass er für sie gebetet hatte und sie auf der Suche nach einem Straßenprediger war. Nach dem, der sich “der Sünder” nannte. Und der Sünder wusste, dass sie nach ihm suchte, denn er hatte sie angerufen, um ihr zu sagen, sie solle ihn in Ruhe lassen.
    Sie stellte die Dusche ab, griff nach einem Handtuch und stieg aus der Wanne auf die Badematte.
    War das möglich? Handelte es sich bei dem Mann im Regen und dem Priester im Park um ein und dieselbe Person? Und wenn ja, konnte es der Sünder sein? Dieser Gedanke verursachte ihr Unbehagen. Hatte er ihr womöglich aufgelauert?
    Schließlich redete sie sich ein, dass dies ein zu großer Zufall gewesen wäre und dass es Dutzende von obdachlosen Männern gab, die auf der Straße predigten. Sie zog sich für die Arbeit an und

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