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Der Jünger

Der Jünger

Titel: Der Jünger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Sala
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errichteten sie das Vietnam Memorial in Washington, D.C. Seinen ersten Besuch hatte er dort lediglich abgestattet, um den gefallenen Kameraden seine Ehre zu erweisen, doch dann war er fast jeden Monat zurückgekehrt, bis er schließlich dort geblieben war. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich in der Nähe dieser Namen noch am meisten zu Hause.
    So wurde er, wie zahlreiche andere Veteranen, ein Schatten in D.C. So wie er auch schon ein Schatten in New Jersey gewesen war. Tom lebte ruhig und leise, ohne Wellen zu schlagen. Er hatte erwartet, genauso zu sterben – nicht angekettet in dieser Klapsmühle. Bisher hatte er versucht, sich von diesen Handschellen zu befreien, den Mann neben sich verflucht und sich gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis er hier seinen Verstand verlieren würde.
    Er erinnerte sich an den Mann, den sie Matthew nannten. Den hatte er vorher auf der Straße schon gesehen, wusste auch, dass es sich um einen Veteranen handelte. Wusste, dass er in Kriegsgefangenschaft gewesen war. Der arme Kerl tat ihm leid. So wie er aussah, litt er an einer posttraumatischen Störung und durchlebte ein paar böse Erinnerungen. Das machte ihn nur noch entschlossener, am Leben zu bleiben – wenigstens lange genug, um diesem verrückten Arschloch, das gern Verlierertypen aufsammelte, die Gurgel zuzudrücken.
    Da wurde die Tür geöffnet. Alle wandten sich dem Geräusch zu. Als sie den Taxifahrer sahen, begann jeder auf einmal zu reden, einige flehten, andere fluchten. Bis sie bemerkten, dass er einen weiteren Mann mit sich schleifte, da wurde es still im Raum.
    Es war Tom Gerlich, der als Erster etwas sagte.
    “Was zur Hölle spielst du hier eigentlich?”, knurrte er.
    Jay runzelte die Stirn. “Fluchen ist ein Werkzeug des Teufels”, sagte er und begann, die Handgelenke und Fußknöchel seines neuen Opfers in Ketten zu legen.
    Matthew stöhnte.
    Der Mann namens Simon fluchte zunächst, dann begann er zu weinen.
    Der große Schwarze, der sich Andy nannte, bohrte in der Nase und wischte dann den Finger an der Wand neben seinem Kopf ab.
    Johnny Marino war vollkommen verwirrt von den Ereignissen und stand noch halb unter den Drogen, mit denen er ruhiggestellt worden war.
    Das neue Opfer kam langsam zu sich. Der erste Blick in seinem neuen Zuhause fiel auf den Rücken des halbnackten Schwarzen. Panisch versuchte er aufzustehen. In dem Moment bemerkte er, dass er genauso wie die anderen Männer an die Wand gekettet war.
    “He! Was geht hier vor!”, schrie er und zuckte gleich darauf zusammen, weil ihm seine eigene Stimme wie ein scharfes Messer von einem Ohr zum anderen durch den Kopf schoss. “Oh, verdammt”, stöhnte er, sackte auf den Boden und hielt sich den Schädel mit beiden Händen.
    Aber Gerlich hatte die vier Jahre in Vietnam nicht überstanden, ohne ebenso zäh zu werden wie die alten Stiefel, die er trug. Er war aus dem Land mit einem Dschungel voller Verrückter lebend herausgekommen. Es brauchte mehr als einen Durchgedrehten, um ihn in die Knie zu zwingen.
    “Ein Werkzeug des Teufels, sagst du? Na ja, du solltest es ja wissen”, schrie Tom. “So wie das hier aussieht, würde ich sagen, ihr zwei seid ein Herz und eine Seele.”
    Jay wirbelte herum, schockiert und verärgert, dass jemand so etwas von ihm dachte.
    “Sieh dich doch um! Wie kannst du so etwas Böses sagen, wie kannst du mich dermaßen beschuldigen? Warum zweifelst du an mir? Wisst ihr es denn nicht? Wisst ihr denn alle nicht, was ihr für mich seid?” Dann ging er in die Mitte des Raumes und hob beide Arme, als würde er den Himmel anflehen. “Oh mein Gott, warum hast du mich verlassen?”
    In diesem Augenblick kam ihm langsam die Erkenntnis. Dies war der Garten Gethsemane. Thomas tat nichts anderes als das, was er tun musste: Er zweifelte. Gott prüfte nun Jays Glauben, indem er ihm Jünger sandte, die sich abwandten, genauso wie Jesus viele Jahrhunderte zuvor vom Satan herausgefordert worden war.
    Jay fiel auf die Knie, während ihn die angeketteten Männer anstarrten. Selbst Matthew hatte aufgehört, sich hin und her zu wiegen, und blickte zu dem Mann in der Mitte des Raumes. Als Jay sich plötzlich nach vorn warf, um sich mit dem Gesicht nach unten, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, auf den Boden zu legen, zuckte Matthew zusammen.
    Doch Jay verspürte Frieden. Hier, umgeben von seinen Helfern, fühlte er sich Gott näher als je zuvor, seit seine Mission begonnen hatte. Die Nase auf das verschmutzte Metall gepresst,

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