Der Jüngling
Gespräche nicht vergessen haben; das zeigt mir, daß Sie manchmal an mich denken; aber ... hinsichtlich der Universität bin ich noch zu keinem Entschluß gelangt, außerdem habe ich meine besonderen Ziele.«
»Das heißt, er hat sein Geheimnis«, bemerkte Lisa.
»Laß die Späße, Lisa«, erwiderte ich. »Ein kluger Mann hat vor einigen Tagen den Ausspruch getan, bei unserer ganzen fortschrittlichen Bewegung der letzten zwanzig Jahre hätten wir vor allen Dingen bewiesen, daß wir schmählich ungebildet seien. Das bezog sich natürlich auch auf unsere Studierten.«
»Na, gewiß hat das Papa gesagt; du wiederholst furchtbar oft seine Gedanken«, meinte Lisa.
»Lisa, das klingt ja, als trautest du mir keinen eigenen Verstand zu.«
»In unserer Zeit ist es nützlich, die Worte kluger Männer aufmerksam zu hören und im Gedächtnis zu bewahren«, sagte Anna Andrejewna leichthin zu meiner Verteidigung.
»Ganz richtig, Anna Andrejewna«, fiel ich eifrig ein. »Wer über Rußlands jetzigen Zustand nicht nachdenkt, der ist kein Patriot! Ich betrachte Rußland vielleicht von einem eigentümlichen Gesichtspunkt aus: wir haben die tatarische Invasion überstanden und nachher eine zweihundertjährige Knechtschaft, und natürlich deshalb, weil sowohl das eine als auch das andere unserem Geschmack zusagte. Jetzt ist uns die Freiheit gegeben worden, und wir müssen die Freiheit ertragen: werden wir das verstehen? Wird es sich zeigen, daß auch die Freiheit unserem Geschmack zusagt? – das ist die Frage.«
Lisa warf Anna Andrejewna einen schnellen Blick zu; diese aber schlug sogleich die Augen nieder und begann, etwas neben sich zu suchen; ich sah, daß Lisa sich mit aller Kraft zu beherrschen suchte, aber auf einmal begegneten sich unsere Blicke zufällig, und sie brach in ein unbändiges Gelächter aus; ich brauste auf:
»Lisa, du bist mir unbegreiflich!«
»Verzeih mir!« sagte sie, hörte auf einmal auf zu lachen und machte beinahe ein trauriges Gesicht. »Weiß Gott, was mir heute im Kopf sitzt ...«
In ihrer Stimme schienen plötzlich Tränen zu zittern. Ich schämte mich furchtbar, ergriff ihre Hand und küßte sie herzlich.
»Sie sind ein sehr guter Mensch«, sagte Anna Andrejewna weich zu mir, als sie sah, daß ich Lisa die Hand küßte.
»Ich freue mich vor allen Dingen darüber, Lisa, daß ich dich heute in lachlustiger Stimmung treffe«, sagte ich. »Werden Sie es glauben, Anna Andrejewna: in den letzten Tagen hat sie mich, wenn wir uns trafen, jedesmal mit einem ganz seltsamen Blick angesehen, in dem die Frage zu liegen schien: ›Nun, hast du nicht etwas erfahren? Ist alles in Ordnung?‹ Wirklich, ungefähr so etwas besagte ihre Miene.«
Anna Andrejewna hob langsam die Augen und blickte Lisa scharf an. Diese schlug die Augen nieder. Ich sah übrigens recht wohl, daß sie weit besser und näher miteinander bekannt waren, als ich vorher beim Eintritt hatte annehmen können; dieser Gedanke war mir angenehm.
»Sie sagten soeben, ich sei ein guter Mensch; Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich bei Ihnen nach der guten Seite hin verändere und wie angenehm es mir ist, bei Ihnen zu sein, Anna Andrejewna«, sagte ich mit warmer Empfindung.
»Und ich freue mich sehr, daß Sie gerade jetzt so sprechen«, antwortete sie mir bedeutsam.
Ich muß sagen, daß sie noch niemals mit mir von meinem unordentlichen Lebenswandel und von dem Sumpf, in den ich hineingeraten war, gesprochen hatte, obgleich sie – das wußte ich – nicht nur Kenntnis von alledem besaß, sondern sogar auf Umwegen Erkundigungen darüber eingezogen hatte. Ihre jetzige Bemerkung war somit eine Art erster Anspielung, und – mein Herz fühlte sich noch mehr zu ihr hingezogen.
»Was macht unser Kranker?« fragte ich.
»Oh, es geht ihm viel besser: er geht schon umher und ist gestern und heute spazierengefahren. Haben Sie ihn denn auch heute nicht besucht? Er erwartet Sie sehr.«
»Ich bekenne meine Schuld ihm gegenüber, aber Sie besuchen ihn ja jetzt regelmäßig und ersetzen mich vollständig; er ist ein großer Verräter und ist von mir zu Ihnen übergegangen.«
Sie machte ein sehr ernstes Gesicht; sehr möglich, daß mein Scherz recht trivial ausgefallen war.
»Ich war vorhin beim Fürsten Sergej Petrowitsch«, murmelte ich, »und ich ... Übrigens, Lisa, du hast ja vorhin Darja Onissimowna besucht?«
»Ja, ich war da«, antwortete sie merkwürdig kurz, ohne den Kopf zu heben. »Du gehst ja wohl alle Tage zu dem kranken Fürsten?«
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