Der Jüngling
aufrichtigem Ärger mit der flachen Hand auf den Tisch; Mama fuhr zusammen, und Wersilow warf mir einen sonderbaren Blick zu. Ich fing auf einmal an zu lachen und bat alle um Entschuldigung.
»Tatjana Pawlowna, ich nehme den Ausdruck ›das Unglück meines Lebens‹ zurück«, sagte ich, zu ihr gewendet; ich benahm mich weiterhin ganz ungeniert.
»Nein, nein«, versetzte sie schroff, »es ist mir weit schmeichelhafter, von dir für dein Unglück gehalten zu werden als für das Gegenteil, das kannst du mir glauben.«
»Mein Lieber, man muß es verstehen, die kleinen Unglücksfälle des Lebens zu ertragen«, murmelte Wersilow lächelnd. »Ohne Unglück hat das Leben überhaupt keinen Wert.«
»Wissen Sie, Sie sind manchmal ein schrecklicher Reaktionär«, rief ich, nervös lachend.
»Mein Freund, das ist ganz egal.«
»Nicht doch, das ist nicht egal! Warum sagen Sie es einem Esel nicht geradezu, wenn er ein Esel ist?«
»Du sagst das doch nicht etwa von dir selbst? Vor allen Dingen will und kann ich niemanden richten.«
»Warum wollen Sie es nicht, warum können Sie es nicht?«
»Weil ich dazu zu faul bin und weil es mir zuwider ist. Eine kluge Frau hat einmal zu mir gesagt, ich hätte deswegen kein Recht, andere zu richten, weil ich nicht verstände zu leiden; andere richten könne nur, wer sich das Recht dazu durch Leiden verdient habe. Das klingt ein bißchen hochtrabend, ist aber, auf mich angewendet, vielleicht richtig, so daß ich mich diesem Urteil sogar sehr gern unterworfen habe.«
»Hat das wirklich Tatjana Pawlowna zu Ihnen gesagt?« rief ich.
»Woher weißt du das?« fragte Wersilow, mich einigermaßen erstaunt ansehend.
»Ich habe es aus Tatjana Pawlownas Gesicht erraten: sie zuckte auf einmal so.«
Ich hatte es zufällig erraten. Dieser Satz war tatsächlich, wie sich nachher herausstellte, ein Ausspruch, den Tatjana Pawlowna tags zuvor in einem hitzigen Gespräch mit Wersilow getan hatte. Ich wiederhole es: mit meiner frohen Stimmung und mit meiner Redseligkeit setzte ich überhaupt allen sehr zur Unzeit zu; jeder von ihnen hatte seine Sorgen, seine schweren Sorgen.
»Ich verstehe das nicht, weil das alles so abstrakt ist; das ist eine Eigenheit von Ihnen, Andrej Petrowitsch: Sie sprechen furchtbar gern abstrakt. Das ist eine egoistische Eigenheit: abstrakt sprechen nur Egoisten gern.«
»Diese Bemerkung ist gar nicht so dumm, aber dränge dich nicht so auf!«
»Nein, erlauben Sie«, fuhr ich in meiner Redseligkeit fort, »was bedeutet das: ›sich das Recht zum Richten durch Leiden verdienen‹? Wer ehrenhaft ist, der kann auch Richter sein – das ist meine Meinung.«
»Bei diesem Grundsatz wirst du nicht viele Richter zusammenbringen.«
»Einen weiß ich schon.«
»Wer ist das?«
»Er sitzt jetzt hier und spricht mit mir.«
Wersilow lächelte sonderbar, beugte sich dicht an meinOhr, faßte mich bei der Schulter und flüsterte mir zu: »Er belügt dich fortwährend.«
Ich verstehe bis auf den heutigen Tag noch nicht, was er damals meinte, aber offenbar befand er sich in jenem Augenblick in einer ganz besonderen Unruhe (infolge einer Nachricht, wie ich mir das nachher zurechtlegte). Aber dieser Ausdruck: »Er belügt dich fortwährend« überraschte mich dermaßen und war in so ernstem, seltsamem, durchaus nicht scherzhaftem Tone gesprochen, daß ein nervöses Zucken durch meinen ganzen Körper lief; ich bekam ordentlich einen Schreck und sah ihn befremdet an, aber Wersilow lachte schnell auf.
»Na, Gott sei Dank!« sagte Mama, die sich darüber geängstigt hatte, daß er mir etwas ins Ohr flüsterte, »ich hatte schon gedacht ... Du mußt auf uns nicht böse sein, Arkascha: kluge Leute wirst du auch ohne uns viel um dich haben, aber wer würde dich liebhaben, wenn du uns nicht hättest?«
»Das ist eben das Unmoralische an der verwandtschaftlichen Liebe, Mama, daß sie unverdient ist. Liebe muß man verdienen.«
»Bis du sie verdienen wirst, wirst du hier auch ohne das geliebt werden.«
Alle fingen auf einmal an zu lachen.
»Na, Mama, Sie wollten vielleicht gar nicht schießen und haben doch den Vogel abgeschossen!« rief ich mitlachend.
»Du hast dir am Ende wirklich eingebildet, du besäßest Eigenschaften, für die du geliebt zu werden verdienst«, fuhr Tatjana Pawlowna wieder auf mich los. »Sie lieben dich nicht nur ohne dein Verdienst, sondern sogar unter Überwindung ihres Widerwillens!«
»Ach nein, so ist das doch nicht!« rief ich vergnügt. »Wissen Sie, wer mir
Weitere Kostenlose Bücher