Der Jüngling
Äußerlich verriet ich mich durch nichts und zuckte nicht einmal mit den Wimpern; aber ich wollte immer noch nicht glauben, daß die Frage ernst gemeint sei.
»Wie meinen Sie das: ›in Händen haben‹? Jetzt soll ich es in Händen haben? Aber wenn es doch Krafft damals verbrannt hat?«
»Hat er das getan?« fragte er, indem er einen brennenden, starren Blick auf mich richtete, der mir unvergeßlichist. Übrigens lächelte er wieder, aber sein ganzer bisheriger gutmütiger, frauenhafter Gesichtsausdruck war plötzlich verschwunden. Seine Miene zeigte eine gewisse Unsicherheit und Verwirrung; seine Zerstreutheit nahm immer mehr zu. Hätte er sich damals mehr in der Gewalt gehabt, nämlich in dem Maße, wie es bis zu diesem Augenblick der Fall gewesen war, so würde er die Frage wegen jenes Schriftstücks nicht an mich gerichtet haben; wenn er es doch tat, so geschah das sicherlich, weil er selbst die ruhige Überlegung verloren hatte. Übrigens rede ich so erst jetzt; damals aber verstand ich die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, nicht so schnell; ich flog immer noch durch die Luft, und in meiner Seele klang immer noch dieselbe Musik. Aber meine Erzählung war beendet; ich sah ihn an.
»Aber eines ist doch wunderlich«, sagte er auf einmal, als ich schon alles bis auf das letzte Tüpfelchen erzählt hatte, »eines ist doch sehr sonderbar, mein Freund: du sagst, daß du von drei bis vier dort gewesen bist und Tatjana Pawlowna nicht zu Hause war?«
»Genau von drei bis halb fünf.«
»Na, und nun denk dir mal, ich kam zu Tatjana Pawlowna Punkt halb vier, auf die Minute, und traf sie in der Küche: ich gehe ja fast immer über die Hintertreppe zu ihr hinauf.«
»Wie? Sie haben sie in der Küche getroffen?« rief ich und beugte mich erstaunt zurück.
»Ja, und sie erklärte mir, sie könne mich nicht empfangen; ich blieb nur ein paar Minuten bei ihr; ich war auch nur gekommen, um sie zum Mittagessen einzuladen.«
»Vielleicht war sie eben erst von irgendeinem Gang nach Hause zurückgekehrt?«
»Das kann ich nicht sagen – übrigens nein: sie hatte ihre offene Hausjacke an. Das war genau um halb vier.«
»Aber ... Tatjana Pawlowna hat Ihnen nicht gesagt, daß ich da war?«
»Nein, sie hat mir nicht gesagt, daß du da warst ... Sonst hätte ich es ja gewußt und dich nicht danach gefragt.«
»Hören Sie mal, das ist sehr wichtig ...«
»Ja ... das kommt darauf an, von welchem Standpunktman es ansieht; du bist ja sogar ganz blaß geworden, mein Lieber; übrigens, was ist denn eigentlich daran so wichtig?«
»Man hat sich über mich lustig gemacht wie über ein kleines Kind!«
»Sie hat sich einfach ›vor deinem heißen Blut gefürchtet‹, wie sie sich selbst dir gegenüber ausgedrückt hat; na, und da hat sie sich durch Tatjana Pawlownas Anwesenheit sichern wollen.«
»Aber, mein Gott, was war das für ein hinterlistiges Verhalten! Hören Sie nur, sie hat mich das alles vor den Ohren einer dritten Person aussprechen lassen, vor Tatjana Pawlownas Ohren; die hat also alles gehört, was ich da heute gesagt habe! Das ... es ist schrecklich, sich das auch nur vorzustellen!«
»C'est selon, mon cher. Und überdies hast du ja selbst vorhin von der Toleranz gesprochen, die man den Frauen gegenüber überhaupt üben müsse, und ausgerufen: ›Es lebe die Toleranz!‹«
»Wenn ich Othello wäre und Sie Jago, so hätten Sie Ihre Sache nicht besser machen können ... übrigens, ich lache darüber! Von einem Othello kann hier nicht die Rede sein, weil gar keine derartigen Beziehungen vorhanden sind. Und warum sollte ich auch nicht darüber lachen? Mag es so gewesen sein! Ich glaube dennoch an das, was unendlich viel höher ist als ich, und lasse mir mein Ideal nicht rauben! ... Wenn es ein Scherz von ihrer Seite war, so verzeihe ich ihr. Ein Scherz mit einem armseligen, unreifen Jüngling – meinetwegen! Ich habe mich ja auch nicht besser gemacht, als ich bin; aber der Student, der Student ist doch trotz alledem in ihrem Herzen gewesen und geblieben; da ist er, und da wird er bleiben! Genug davon! Hören Sie, wie denken Sie darüber: soll ich gleich zu ihr hinfahren, um die ganze Wahrheit zu erfahren?«
Ich sagte: »Ich lache darüber«, aber die Tränen standen mir in den Augen.
»Warum nicht? Fahre hin, mein Freund, wenn du Lust dazu hast.«
»Ich habe mich sozusagen seelisch dadurch beschmutzt, daß ich Ihnen das alles erzählt habe. Seien Sie mir nichtböse, mein Teuerster, aber über eine Frau –
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