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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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liegen ...
    Mein Lieber«, unterbrach er sich plötzlich lächelnd, »alles das ist ja ein Phantasiegebilde, und sogar ein sehr unwahrscheinliches; aber ich habe mir das schon sehr, sehr oft ausgemalt, weil ich mein ganzes Leben lang ohne das nicht leben konnte, sondern dauernd daran denken mußte. Ich rede nicht von meinem Glauben: mein Glaube ist fest, ich bin Deist, philosophischer Deist, wie nach meiner Annahme unser ganzes Tausend; aber ... aber es ist merkwürdig, daß ich das so entworfene Bild immer mit einer Vision abschloß wie bei Heine: ›Christus auf der Ostsee‹. Ich konnte ihn in meinen Gedanken nicht weglassen; ich konnte nicht umhin, ihn mir schließlich inmitten der verwaisten Menschen vorzustellen. Er trat zu ihnen, streckte ihnen die Hände entgegen und sagte: ›Wie konntet ihr ihn vergessen?‹ Und dann würde allen gleichsam die Binde von den Augen fallen, und es würde der große, begeisterte Hymnus der neuen, letzten Wiedergeburt erschallen ...
    Lassen wir dieses Thema, mein Freund; meine ›Büßerketten‹ aber sind dummes Zeug; über die beunruhige dich nicht weiter! Aber noch eins: du weißt, daß ich für gewöhnlich in meinen Äußerungen zurückhaltend und nüchtern bin; wenn ich mich jetzt habe mehr gehenlassen, so kommt das von ... von mancherlei Gefühlen her und davon, daß ich gerade – mit dir rede; einem andern würde ich dergleichen niemals sagen. Das füge ich hinzu, um dich zu beruhigen.«
    Aber ich war ganz gerührt; an eine Unwahrheit, wie ich sie befürchtet hatte, war nicht zu denken, und ich freute mich besonders darüber, daß ich nunmehr klar erkannt hatte, daß er tatsächlich sich gegrämt und gelitten und tatsächlich und unzweifelhaft viel geliebt hatte – und dieseErkenntnis war mir am wertvollsten. Ich sagte ihm das mit warmer Empfindung.
    »Aber wissen Sie«, fügte ich auf einmal hinzu, »ich glaube, daß Sie doch trotz all Ihres Grams sich damals außerordentlich glücklich gefühlt haben müssen.«
    Er lachte vergnügt auf.
    »Du beweist heute in deinen Bemerkungen einen besonderen Scharfsinn«, sagte er. »Nun ja, ich fühlte mich glücklich, und konnte ich denn auch mit einem solchen Gram unglücklich sein? Es gibt keinen freieren, glücklicheren Menschen als so einen umherirrenden Russen aus unserem Tausend. Das sage ich wahrlich nicht im Scherz; es steckt viel Ernst darin. Und ich hätte meinen Gram für kein anderes Glück hingegeben. In diesem Sinn habe ich mich immer glücklich gefühlt, mein Lieber, mein ganzes Leben lang. Und infolge dieses Glücksgefühls gewann ich damals auch deine Mutter zum erstenmal in meinem Leben wahrhaft lieb.«
    »Wie meinen Sie das: zum erstenmal in Ihrem Leben?«
    »Ganz wörtlich. Während ich so umherirrte und mich grämte, gewann ich sie lieb wie nie zuvor und rief sie sofort zu mir.«
    »Oh, erzählen Sie mir auch davon etwas, erzählen Sie mir von Mama!«
    »Eben darum habe ich dich ja gebeten, zu mir zu kommen«, versetzte er mit heiterem Lächeln, »ich fürchtete schon, du wolltest mir mein rücksichtsloses Benehmen gegenüber Mama wegen einer Beteiligung an den Bestrebungen Herzens oder an irgendeiner kleinen Verschwörung im Ausland verzeihen ...«

Achtes Kapitel
     
I
     
    Da wir damals den ganzen Abend miteinander redeten und bis spät in die Nacht hinein zusammensaßen, so werde ich nicht das ganze Gespräch hier niederschreiben, sondern nur diejenigen Stücke wiedergeben, durch die ich endlichüber einen rätselhaften Punkt in seinem Leben Klarheit gewann.
    Ich beginne mit der Bemerkung, daß es für mich außer Zweifel steht, daß er Mama liebte und, wenn er von ihr wegreiste, sie im Stich ließ und »die Beziehungen zu ihr löste«, der Grund natürlich der war, daß er sich bei ihr langweilte, oder sonst etwas in dieser Art, was übrigens bei allen Menschen in der Welt vorkommt, aber immer schwer zu erklären ist. Im Ausland gewann er, übrigens erst nach langer Zeit, auf einmal Mama in ihrer Abwesenheit wieder lieb, das heißt in Gedanken, und rief sie zu sich. Man wird vielleicht sagen: »Ein närrischer Einfall!«, aber ich fasse es anders auf: meines Erachtens war seine Handlungsweise so ernst, wie es überhaupt nur im menschlichen Leben möglich ist, trotz des offensichtlichen Müßiggängertums, das ich zum Teil nicht in Abrede stellen will. Aber ich kann versichern, daß ich seinen europäischen Gram unbedenklich nicht nur auf die gleiche Stufe, sondern sogar unvergleichlich höher stelle als

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