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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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Idee zu grämen. Notwendigerweise überlegte ich mir mitunter, wie der Mensch ohne Gott leben wird, und ob dies überhaupt jemals möglich sein wird. Mein Herz beantwortete diese Frage immer dahin, daß es unmöglich sei; aber eine gewisse Periode des Unglaubens ist doch wohl möglich ... Für mich besteht sogar kein Zweifel daran, daß diese Periode heranrückt; aber ich habe mir immer ein ganz anderes Bild davon gemacht ...«
    »Was denn für ein Bild?«
    Allerdings hatte er schon vorher gesagt, daß er glücklich sei, und selbstverständlich lag in seinen Worten viel Exaltiertheit; so faßte ich denn auch vieles von dem, was er damals sagte, auf. Natürlich kann ich mich aus Achtung vor diesem Mann nicht dazu entschließen, unser gesamtes damaliges Gespräch schriftlich der Nachwelt zu überliefern; aber einige Striche des seltsamen Bildes, das ich ihm abgewann, will ich hier doch vorführen. Ganz besonders hatten mich immer, die ganze frühere Zeit, diese »Büßerketten« gepeinigt, und ich hätte gern über sie Klarheit gewonnen – daher fragte ich hiernach beharrlich. Einige phantastische und höchst seltsame Ideen, die er damals aussprach, sind in meinem Herzen haftengeblieben.
    »Ich stelle mir vor, mein Lieber«, begann er mit einem nachdenklichen Lächeln, »daß der Kampf bereits zu Ende ist und der Streit sich gelegt hat. Nach den Flüchen, dem Bewerfen mit Schmutz und dem Auspfeifen ist Ruhe eingetreten, und die Menschen sind allein zurückgeblieben, wie sie das gewünscht hatten: die große, frühere Idee hat sie verlassen; der große Kraftquell, von dem sie bisher genährt und erwärmt wurden, ist dahingegangen wie jene majestätische, prächtige Sonne auf dem Bild von ClaudeLorrain, aber dies ist nun gleichsam der letzte Tag der Menschheit. Und die Menschen sind auf einmal zu der Erkenntnis gelangt, daß sie ganz allein geblieben sind, und fühlen plötzlich eine große Verwaistheit. Mein lieber Junge, ich habe mir niemals die Menschen als undankbar und als verdummt vorstellen können. Die verwaisten Menschen würden sich sofort enger und liebevoller aneinander anschließen; sie würden einander an den Händen fassen, in dem Bewußtsein, daß jetzt nur sie allein ein jeder des andern ein und alles sind! Die große Idee der Unsterblichkeit wäre verschwunden und müßte durch irgend etwas ersetzt werden; und die ganze reiche Fülle der früheren Liebe zu ihm, der auch die Unsterblichkeit war, würde sich bei allen der Natur, der Welt, dem Menschen, einem jeden Grashälmchen zuwenden. Sie würden die Erde und das Leben unwiderstehlich liebgewinnen, und zwar in demselben Maße, in dem sie sich allmählich ihrer Vergänglichkeit und Endlichkeit bewußt würden, und diese Liebe würde eine ganz besondere, der früheren unähnliche Liebe sein. Sie würden in der Natur solche Erscheinungen und Geheimnisse wahrnehmen und entdecken, wie sie sie früher gar nicht vermutet hatten, denn sie würden die Natur mit neuen Augen betrachten, mit dem Blick, mit dem ein Liebender die Geliebte ansieht. Sie würden wie aus einem Rausche erwachen und eilig einander küssen, eilig einander lieben, in dem Bewußtsein, daß ihre Tage kurz sind, daß dies alles ist, was ihnen bleibt. Sie würden füreinander arbeiten, und ein jeder würde sein ganzes Eigentum allen hingeben und allein dadurch sich glücklich fühlen. Jedes Kind würde es wissen und fühlen, daß jeder Mensch auf der Welt es mit ihm so gut meint wie ein Vater oder eine Mutter. ›Mag auch morgen mein letzter Tag sein‹, würde ein jeder beim Anblick der untergehenden Sonne denken, ›das tut nichts, ich werde sterben, aber die andern alle werden hierbleiben und nach ihnen ihre Kinder‹, – und dieser Gedanke, daß die andern dableiben werden und einander weiterlieben und umeinander besorgt sein werden, dieser Gedanke würde einen ausreichenden Ersatz für den Gedanken an ein Wiedersehen nach dem Tode bilden. Oh, sie würden es eilig haben, zu lieben, um die große Traurigkeitin ihren Herzen zu lindern. Sie würden stolz und kühn sein, wo es sich um sie selbst handelt, aber ängstlich bedacht auf das Wohl des Nächsten; jeder würde für das Leben und für das Glück des andern zittern. Sie würden zärtlich zueinander sein und sich dessen nicht schämen, wie sie es jetzt tun, und würden einander liebkosen wie Kinder. Bei allen Begegnungen würden sie einander mit tiefem, seelenvollem Blick in die Augen sehen, und in ihren Blicken würde Liebe und Trauer

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