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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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irgendeine moderne praktische Tätigkeit auf dem Gebiet des Eisenbahnbaues. Seine Liebe zur Menschheit erkenne ich als ein durchaus aufrichtiges, tiefes Gefühl ohne alles Blendwerk an und seine Liebe zu Mama als etwas ganz Unbestreitbares, wenn auch vielleicht ein wenig Phantastisches. Im Ausland, in seinem Gram und seinem Glücksgefühl und, wie ich hinzufüge, in der strengsten mönchischen Vereinsamung (diese besondere Mitteilung habe ich erst später von Tatjana Pawlowna erhalten) erinnerte er sich plötzlich an Mama und namentlich an ihre eingefallenen Wangen und ließ sie sogleich zu sich kommen.
    »Mein Freund«, sagte er unter anderm, und diese Worte schienen unwiderstehlich aus seinem Innern hervorzubrechen, »ich wurde mir auf einmal bewußt, daß meine Bemühungen um die Idee mich als sittliches, vernünftiges Wesen durchaus nicht von der Verpflichtung befreiten, im Laufe meines Lebens wenigstens einen Menschen praktisch glücklich zu machen.«
    »War wirklich ein solcher bloß theoretischer Gedanke der Beweggrund zu allem?« fragte ich zweifelnd.
    »Das ist kein bloß theoretischer Gedanke. Übrigens – meinetwegen. Hier kam jedoch alles zusammen: ich liebteja doch deine Mutter wirklich, aufrichtig, und nicht nur theoretisch. Hätte ich sie nicht geliebt, so hätte ich sie nicht zu mir gerufen, sondern irgendeinen sich dazu bereit findenden Deutschen oder eine Deutsche ›glücklich gemacht‹; wenn ich mir nun einmal diese Idee ausgesonnen hatte. Aber unter allen Umständen auf irgendeine Weise wenigstens ein Wesen im Laufe des Lebens glücklich zu machen, aber jedenfalls praktisch, das heißt in Wirklichkeit, das möchte ich für jeden gebildeten Menschen als Gebot hinstellen; ähnlich wie ich im Hinblick auf die Entwaldung Rußlands es jedem Bauern zum Gesetz oder zur Pflicht machen möchte, wenigstens einen Baum in seinem Leben zu pflanzen; übrigens würde ein Baum wohl zu wenig sein, man könnte ihm auch befehlen, jedes Jahr einen Baum zu pflanzen. Der höherstehende, gebildete Mensch, der einen höheren Gedanken verfolgt, wird manchmal ganz von den Dingen des täglichen Lebens abgezogen, wird lächerlich, launisch, kalt und, um es dir geradeheraus zu sagen, sogar dumm, und nicht nur im praktischen Leben, sondern schließlich sogar dumm in seinen Theorien. Auf diese Weise würde die Pflicht, sich praktisch zu betätigen und wenigstens ein lebendes Wesen glücklich zu machen, in Wirklichkeit als ein Korrektiv und Auffrischungsmittel für den Wohltäter selbst dienen. Als Theorie ist das sehr lächerlich; aber wenn es in die Praxis überginge und zum stehenden Brauch würde, so würde es gar nicht so dumm sein. Ich habe das an mir selbst erfahren: kaum hatte ich angefangen, diese Idee von dem neuen Gebot zu entwickeln – und zwar anfangs selbstverständlich nur im Scherz –, als ich auf einmal die ganze Stärke der in meinem Innern verborgenen Liebe zu deiner Mutter zu fühlen begann. Bis dahin hatte ich überhaupt noch nicht begriffen, daß ich sie liebte. Solange ich mit ihr zusammengelebt hatte, hatte ich nur an ihr mein Vergnügen gehabt, solange sie noch schön war, und dann war ich ihr gegenüber launisch geworden. Erst in Deutschland kam es mir zum Bewußtsein, daß ich sie liebte. Das begann mit ihren eingefallenen Wangen, die ich mir niemals ins Gedächtnis zurückrufen und die ich manchmal auch nicht ansehen konnte, ohne einen Schmerz im Innersten zu empfinden, im eigentlichen Sinne des Wortes einen wirkliehen,physischen Schmerz. Es gibt schmerzliche Erinnerungen, mein Lieber, die einen tatsächlichen Schmerz hervorrufen; solche Erinnerungen besitzt fast jeder Mensch, nur daß die Leute sie vergessen; aber es kommt vor, daß sie sich dann auf einmal an so etwas erinnern, und wenn es auch nur ein unbedeutender Zug ist, und daß sie sich dann nicht mehr davon losmachen können. Ich begann mich an tausend Einzelheiten aus meinem Zusammenleben mit Sonja zu erinnern; zuletzt kamen sie mir von selbst ins Gedächtnis und drängten sich mir massenhaft auf und marterten mich beinahe, während ich auf Sonja wartete. Am ärgsten quälte mich die Erinnerung an ihre stete Unterwürfigkeit unter meinen Willen und daran, daß sie stets geglaubt hatte, in jeder Hinsicht tief unter mir zu stehen – denke dir nur: sogar in physischer Hinsicht. Sie schämte sich und wurde rot, wenn ich manchmal ihre Hände und Finger betrachtete, die ganz und gar nichts Aristokratisches haben. Und sie schämte sich nicht

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