Der Jüngling
nur ihrer Finger, sondern ihres ganzen Aussehens, obwohl ich doch ihre Schönheit liebte. Auch war sie mir gegenüber immer verschämt bis zur Scheu; schlimm war dabei, daß in dieser Verschämtheit immer eine Art Angst sichtbar wurde. Kurz, sie meinte, im Vergleich zu mir etwas Wertloses oder sogar beinahe etwas Unanständiges zu sein. Wahrhaftig, in der ersten Zeit habe ich manchmal gedacht, sie halte mich immer noch für ihren Herrn und fürchte sich vor mir, aber die Sache lag doch ganz anders. Und dabei kann ich dir versichern, daß sie mehr als sonst jemand imstande war, meine Fehler zu erkennen; ja ich habe in meinem Leben nie eine Frau mit einem so feinfühligen, ahnungsvollen Herzen gefunden. Oh, wie unglücklich war sie, wenn ich in der ersten Zeit, als sie noch hübsch war, von ihr verlangte, sie solle sich schön und vornehm kleiden. Ihr Ehrgefühl sträubte sich dagegen, und auch noch in anderer Hinsicht fühlte sie sich dadurch verletzt: sie sah ein, daß sie doch nie eine Dame sein konnte und in einer ihrem Stand nicht entsprechenden Kleidung nur lächerlich aussehen würde. Als Frau aber wollte sie in ihren Kleidern nicht lächerlich aussehen, und sie sah ein, daß jede Frau nur die zu ihr passende Kleidung tragen dürfe, was Tausende und Hunderttausende vonFrauen niemals begreifen, die immer nur nach der Mode gekleidet sein wollen. Sie fürchtete sich vor meinem spöttischen Blick – das war's! Aber besonders traurig machte mich die Erinnerung an ihren Blick voll tiefen Erstaunens, den ich während der ganzen Zeit unseres Zusammenlebens oft auf mir ruhen gefühlt hatte; in diesem Blick bekundete sich ein völliges Verständnis für ihr Schicksal und die sie erwartende Zukunft, so daß dieser Blick in mir selbst mitunter eine peinliche Empfindung hervorrief, obgleich ich, wie ich bekenne, mich damals nicht mit ihr in Gespräche darüber einließ und all diese Dinge sozusagen von oben herab behandelte. Und weißt du, sie ist ja doch nicht immer so ängstlich und scheu gewesen wie jetzt; und auch jetzt kommt es vor, daß sie auf einmal heiter und ordentlich wieder hübsch wird wie eine Zwanzigjährige; aber damals in ihrer Jugend plauderte und lachte sie manchmal sehr gern, natürlich in einer Gesellschaft, die zu ihr paßte: mit den Dienstmädchen und armen Frauen, die bei fremden Leuten das Gnadenbrot essen; und wie fuhr sie zusammen, wenn ich sie mitunter plötzlich mitten im Lachen überraschte, wie jäh errötete sie, und wie ängstlich blickte sie mich an! Einmal, nicht lange vor meiner Abreise ins Ausland, das heißt kurz bevor ich die Beziehungen zu ihr löste, trat ich in ihr Zimmer und fand sie allein an einem Tischchen, ohne jede Arbeit; sie stützte sich mit dem einen Ellbogen auf das Tischchen und war tief in Gedanken versunken. Es war sonst fast nie bei ihr vorgekommen, daß sie so ohne Arbeit dagesessen hatte. Zu jener Zeit hatte ich schon längst aufgehört, sie zu liebkosen. Es gelang mir, mich ihr sehr leise auf den Zehenspitzen zu nähern, sie plötzlich zu umarmen und zu küssen. Sie sprang auf – und niemals werde ich dieses Entzücken, diesen Ausdruck von Glückseligkeit auf ihrem Gesicht vergessen, aber auf einmal wurde er von einem hastigen Erröten abgelöst, und ihre Augen begannen zu funkeln. Weißt du, was ich in diesem funkelnden Blick las? ›Du hast mir ein Almosen gereicht – so ist es!‹ Sie brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus und gab als Grund an, ich hätte sie erschreckt, aber es machte mich schon damals nachdenklich. Und überhaupt sind alle solche Erinnerungen eine sehr peinliche Sache,mein Freund. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was man bei großen Schriftstellern erlebt: in deren Werken kommen manchmal solche ergreifenden Szenen vor, daß man sich nachher sein ganzes Leben lang nur mit Schmerz an sie erinnert: zum Beispiel der letzte Monolog Othellos bei Shakespeare, Jewgenijs Worte, als er zu Tatjanas Füßen liegt, oder die Begegnung des entsprungenen Sträflings mit dem kleinen Mädchen in der kalten Nacht am Brunnen in Viktor Hugos ›Misérables‹; so etwas durchbohrt einem einmal das Herz, und die Wunde bleibt dann fürs ganze Leben. Oh, wie ich auf Sonja wartete, und wie es mich verlangte, sie recht bald zu umarmen! Mit krampfhafter Ungeduld phantasierte ich von einem ganz neuen Lebensprogramm; ich erging mich in Träumereien darüber, wie ich allmählich durch methodische Bemühung in ihrer Seele diese beständige Furcht vor mir
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