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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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war irgendwo ...«
    »Mama, erinnern Sie sich nicht, daß Sie auf dem Gut waren, wo ich, ich glaube bis zu meinem sechsten oder siebenten Jahr, aufwuchs, und die Hauptsache: sind Sie wirklich einmal auf diesem Gut gewesen, oder habe ich das nur geträumt, daß ich Sie dort zum erstenmal gesehen habe? Ich hatte Sie schon längst danach fragen wollen, verschob es aber; jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür gekommen.«
    »Gewiß, Arkaschenjka, gewiß! Ja, ich bin dort bei Warwara Stepanowna dreimal zu Besuch gewesen; das erstemal kam ich, als du erst ein Jährchen alt warst, das zweitemal, als du vier, und das drittemal, als du sechs Jahre alt geworden warst.«
    »Na, sehen Sie, danach hatte ich Sie den ganzen Monat fragen wollen.«
    Meine Mutter war bei dem plötzlichen Andrang dieser Erinnerungen ganz rot geworden und fragte mich mit warmer Empfindung:
    »Hast du mich denn wirklich von meinem Besuch dort noch in Erinnerung, Arkaschenjka?«
    »Ich erinnere mich an nichts und weiß nichts: nur ein Eindruck von Ihrem Gesicht ist für das ganze Leben in meinem Herzen haftengeblieben, und außerdem ist mir das Bewußtsein geblieben, daß Sie meine Mutter sind. Ich sehe dieses ganze Gut jetzt wie im Traum und habe sogar meine Kinderfrau vergessen. An diese Warwara Stepanowna entsinne ich mich nur deswegen ein klein wenig, weil sie immer ein Zahnschmerzentuch um die Backe trug. Ich erinnere mich noch an riesige Bäume, die um das Haus herumstanden, ich glaube Linden, ferner an den kräftigen Sonnenschein, der manchmal durch die offenen Fenster hereindrang, an ein Vorgärtchen mit Blumen, an einen kleinen Steig. An Sie, Mama, erinnere ich mich deutlich nur in dem Augenblick, wo mir in der dortigen Kirche einmal das Abendmahl gereicht wurde und Sie mich in die Höhe hoben, damit ich das Sakrament empfing und den Kelch küßte; es war im Sommer, und eine Taube flog quer durch die Kuppel, von einem Fenster zum andern ...«
    »Herrgott! So ist das alles wirklich gewesen!« rief meine Mutter und schlug die Hände zusammen. »Und aufdas Täubchen besinne ich mich auch noch, wie wenn's heute wäre. Gerade als du mit dem Mund dicht am Kelch warst, fuhrst du zusammen und riefst: ›Eine Taube, eine Taube!‹«
    »Ihr Gesicht oder etwas in diesem Gesicht, der Ausdruck desselben, ist mir so fest im Gedächtnis geblieben, daß ich Sie fünf Jahre darauf in Moskau sofort erkannte, obgleich mir damals niemand gesagt hatte, daß Sie meine Mutter seien. Aber als ich mit Andrej Petrowitsch zum erstenmal zusammenkam, wurde ich gerade von Andronikows weggenommen; bei denen hatte ich bis dahin still und vergnügt fünf Jahre verbracht. Auf ihre Dienstwohnung besinne ich mich noch bis in die unbedeutendsten Einzelheiten, und auf alle diese Frauen und Fräulein, die jetzt alle hier so alt geworden sind, und auf das volle Haus und auf Andronikow selbst, wie er alle möglichen Lebensmittel, Geflügel, Zander, Ferkel, selbst aus der Stadt in einer Markttasche herbeitrug, und wie er bei Tisch an Stelle seiner Gattin, die immer sehr vornehm tat, uns die Suppe aufschöpfte und wir, der ganze Tisch, immer darüber lachten und er als erster. Dort unterrichteten mich die Fräulein im Französischen; am meisten aber liebte ich die Krylowschen Fabeln, lernte eine Menge von ihnen auswendig und deklamierte Herrn Andronikow täglich eine Fabel, indem ich ohne weiteres zu ihm in sein kleines Arbeitszimmer ging, ganz gleich, ob er beschäftigt war oder nicht. Na, und sehen Sie, durch eine dieser Fabeln bin ich denn auch mit Ihnen bekannt geworden, Andrej Petrowitsch ... Ich sehe, Sie fangen an, sich zu erinnern.«
    »Ja, es kommt mir so eine schwache Erinnerung, mein Lieber, daß du mir damals etwas aufgesagt hast ... eine Fabel oder etwas aus ›Verstand schafft Leiden‹, glaube ich. Aber was hast du für ein gutes Gedächtnis!«
    »Ein gutes Gedächtnis? Meinen Sie? Ich habe ja die ganze Zeit einzig und allein daran gedacht.«
    »Schön, schön, mein Lieber, du hast mich durch deine Erzählung ganz munter gemacht.«
    Er lächelte sogar, und sofort fingen auch meine Mutter und meine Schwester an zu lächeln. Das Vertrauen kehrte wieder zurück; aber Tatjana Pawlowna, die die Näschereienauf dem Tisch zurechtgestellt und sich in eine Ecke gesetzt hatte, sah mich immer noch mit einem bösen Blick durchdringend an.
    »Das trug sich folgendermaßen zu«, fuhr ich fort. »Eines schönen Morgens erschien, um mich abzuholen, die Freundin meiner Kindheit, Tatjana

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