Der Jüngstre Tag
zu verlassen, könnten wir einfach weitersegeln und nach England zurückkehren.«
»Das ist wohl ein Scherz? Was ist denn mit …«
»Sieh mal!«, unterbrach Penny ihn. Steven hob den Blick und sah, dass am Himmel überall Lichter leuchteten, die sich der Erde näherten. »Sind das Sternschnuppen?«
»Nein, dafür sind sie zu hell. Das muss etwas sehr Großes sein. Ich schätze, die Internationale Raumstation ist explodiert. Du erinnerst dich bestimmt noch, dass wir darüber gesprochen haben, als wir hierher gesegelt sind.«
Sie beobachteten das flammende Spektakel. Es sah aus, als wäre die Raumstation beim Wiedereintritt in die Atmosphäre in mehrere große Stücke zerbrochen, die jetzt in unterschiedlicher Höhe über dem Horizont verteilt waren und auf die Erde zurasten.
»Mama, ich kann nicht schlafen.«
Lee stand auf der obersten Stufe der Kajütenleiter.
»Geh nur und kümmere dich um ihn«, sagte Steven. »Ich komme später nach.«
Penny drückte Steven an sich, küsste ihn und stieg die Kajütenleiter hinunter, um nach ihrem Sohn zu sehen. Steven blieb allein zurück und dachte über ihr Gespräch nach.
Durch den Tsunami standen sie vor einer vollkommen neuen Situation. Der Komplex von Gulf Harbour, den er mit aufgebaut hatte, war durch die Flutwelle zerstört worden. Drei, vermutlich sogar vier Erwachsene waren ums Leben gekommen. Diese Todesfälle und der Verlust von Zoë hatten ihn ebenso wie alle anderen erschüttert. Steven wusste nicht mehr, was er tun sollte.
Die Reise nach Brisbane war sehr anstrengend. Angst vor einer Kollision mit fahrenden Schiffen brauchte Steven nicht zu haben. Im Wasser treibende Wracks wie zum Beispiel die Northern Princess , der er und sein Vater auf ihrer Reise nach England begegnet waren, stellten dagegen eine große Gefahr dar. Er musste sich auch vor halb versunkenen Containern in Acht nehmen.
In mondlosen Nächten hatten sie keine andere Wahl, als den Autopiloten einzuschalten und zu hoffen, dass alles gut ging. Doch am Tag oder wenn der Mond schien, fühlten sie sich gezwungen, Wache zu halten. Der kleine Lee musste oft tagsüber Wache stehen, während seine Mutter und Steven sich ausruhten.
Es brachte nichts, dass sie in die »falsche Richtung« segelten – von Ost nach West. Der direkte Weg von Neuseelands Nordkap nach Brisbane lag bei zweihundertfünfundachtzig Grad. Steven wählte jedoch einen steileren Kurs und steuerte den Süden von Norfolk Island an. Berichte im Logbuch der Archangel über frühere Fahrten durch die Tasmansee ließen darauf schließen, dass man in den niedrigeren Breiten mit Ostwinden rechnen konnte, wenn sich zwischen Australien und Neuseeland Hochdruckgebiete bildeten. Vor der Pandemie hätte man sich im Internet einfach eine Wettervorhersage für die nächsten sieben Tage gesucht und die Route dementsprechend geplant. Jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Himmel zu betrachten und zu versuchen, das Wetter für die nächsten Stunden einzuschätzen. Aber Gewissheit gab es keine.
Sie waren begeistert, als der erhoffte Ostwind einsetzte. Als er aber nach und nach eine Geschwindigkeit von mehr als fünfundfünfzig Kilometer pro Stunde annahm, war von Freude nichts mehr zu spüren. Die Archangel schlingerte und schwankte in den über fünf Meter hohen Wellen, die gegen ihr Heck schlugen. Der normalerweise zuverlässige Autopilot war der Lage nicht mehr gewachsen und sie waren gezwungen, die Jacht selbst zu steuern. Lee wurde mit dem Bettzeug in die Koje auf der Steuerbordseite verfrachtet, während Steven und Penny im Cockpit blieben und Sicherheitswesten anlegten. Sie wechselten sich jede halbe Stunde ab und ruhten sich während ihrer Pausen aus. Die Kajütenleiter stiegen sie nur in Notfällen hinunter, um nach Lee zu sehen, auf die Toilette zu gehen oder Essen und Wasser zu holen. Das Schiff schlingerte so gewaltig, dass sie weder kochen noch heiße Getränke zubereiten konnten. Eine gefühlte Ewigkeit wehte der starke Wind, und die Archangel wälzte sich in der aufgewühlten See. Die Reise verwandelte sich in einen Überlebenskampf. Es war eine elende Zeit, in der sie ständig unter Schlafmangel litten und permanent erschöpft waren.
Endlich flaute der Wind ab und auch die See beruhigte sich. Es begann zu regnen, und sie konnten den Autopiloten wieder einschalten. Steven und Penny stiegen erschöpft die Kajütenleiter hinunter, brachen angezogen auf dem Boden des Salons zusammen und schliefen sofort ein. Erst als Lee
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