Der Jüngstre Tag
mehr. Der Tisch war genau wie der riesige thronartige Stuhl und zwei der drei vergoldeten Stühle von Nigels Söhnen an die Wand gerückt worden. Der dritte vergoldete Stuhl stand am Ende des großen Holztisches unten vor einem Gedeck.
Platten mit Brot und Butter standen auf dem Tisch, und Susan und Theresa brachten weitere Teller mit Pastete und geräucherter Forelle. Duncans Augen strahlten. So ein köstliches Mahl hatte er seit dem Ausbruch der Pandemie nicht mehr gegessen. »Wer sitzt wo?«, fragte Duncan Theresa und schaute misstrauisch auf den vergoldeten Stuhl.
»Setz dich hin, wo du möchtest.«
Bis auf Diana kamen nun langsam alle Mitglieder der Gemeinschaft in den Saal. Niemand setzte sich auf den vergoldeten Stuhl oder auf die beiden Plätze auf den Bänken links und rechts daneben – auch Duncan nicht. Er nahm gegenüber von Paul in der Mitte des Tisches Platz.
Nigel hatte befohlen, dass niemand das Essen auf dem Tisch anrühren durfte, ehe er und seine Söhne Platz genommen hatten. Doch jetzt war Nigel tot, und seine Söhne saßen hinter Schloss und Riegel. Aller Augen waren auf Duncan gerichtet. Es war die Gelegenheit für ihn, eine Erklärung abzugeben. Er streckte den Arm aus und nahm sich ein Brötchen.
»Meine Mutter kommt sofort«, sagte Theresa in scharfem Ton. »Sie möchte, dass wir vor dem Essen ein Tischgebet sprechen.«
Duncan spürte, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als das Brötchen zurückzulegen. »Gute Idee«, sagte er und strich sich über den Bart, um seine Verlegenheit zu überspielen, doch innerlich kochte er vor Wut. Es war genau wie vor Nigels Tod, als sie auf dessen Eintreffen warten mussten.
Fünf Minuten später betrat Diana den Saal. Sie trug noch immer das Tudor-Kleid, das sie heute Morgen angezogen hatte. Jetzt fiel Duncan auf, dass keiner von ihnen die grauen Jacken ausgezogen hatte, die sie auf Nigels Befehl hin tragen mussten. Als Diana auf den Esstisch zuging, standen Duncans Nichten Kimberley und Rebecca spontan auf, wie sie es gewohnt waren, wenn Nigel und seine Söhne den Großen Saal betraten.
»Setzt euch hin«, flüsterte Duncan verärgert. Die beiden Mädchen folgten hastig dem Befehl. Diana ging sofort auf das Ende des Tisches zu und stellte sich hinter den vergoldeten Stuhl. Theresa stand neben dem leeren Platz zu ihrer Rechten und Susan an ihrer linken Seite.
»Bitte steht auf, damit wir das Tischgebet sprechen können«, bat Susan die Anwesenden. Alle standen auf – auch Duncan.
»Herr«, begann Theresa. »Wir danken dir, dass du uns von dem Bösen befreit hast. Wir danken dir für das Wissen, das du meiner Mutter verliehen hast und das unsere Rettung ermöglicht hat. Wir danken dir auch für unsere reiche Ernte, das Essen auf unserem Tisch, und für viele andere Segnungen. Amen.«
»Amen«, antworteten alle im Chor.
»Bitte setzt euch und lasst es euch schmecken«, sagte Diana. »Wie ihr seht, habe ich dafür gesorgt, dass ihr heute besondere Delikatessen serviert bekommt.«
Aufgeregt und freudig begannen alle im Großen Saal angeregt zu plaudern. Duncan, der in der Mitte des Tisches saß, beugte sich zu Paul hinüber und flüsterte: »Wer glaubt sie eigentlich, wer sie ist?«
»Ich finde, sie macht das ganz gut«, erwiderte Paul und nahm sich von der geräucherten Forelle. »Alle sprechen gern das Tischgebet. Und schau dir die Leckerbissen an, die sie uns serviert hat.«
»Was soll das heißen, die sie uns serviert hat?«, sagte Duncan ungläubig. »Das ist unser aller Essen!«
Als die Forellen und die Pastete verspeist waren, nickte Diana Susan und Theresa zu, die daraufhin aufstanden und in die Küche eilten. Der Rest der Familie reckte die Hälse, um zu sehen, was vor sich ging.
Plötzlich hallte Musik durch den Raum. Frank Sinatra sang My Way . Es war das erste Mal seit fast drei Jahren, dass sie Musik hörten. Theresa schob ein altes, handbetriebenes Grammophon in den Raum, durch dessen großen Messingtrichter die Klänge hallten. Außer Duncan standen alle spontan auf und klatschten und jubelten.
Duncan wurde noch wütender. Diana ahmte dieselbe Show nach, die Nigel in dem Jahr, als sie nach Haver gekommen waren, bei der Weihnachtsfeier abgezogen hatte. Zu dem Anlass war Rudolf, das Rentier mit der roten Nase gespielt worden, worauf Nigel und seine Söhne zum ersten Mal in ihren Tudor-Kostümen den Raum betraten. Duncan erinnerte sich, dass damals auch alle geklatscht und gejubelt hatten, bevor der Tag mit einer Katastrophe
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