Der Junge aus dem Meer - Roman
stehen und hielt Leos Hand fest, während mich seine grünen Augen hoffnungsvoll ansahen.
»Komm, Miranda«, fügte Leo hinzu. »Vertrau mir.«
Vertrau mir
. Konnte ich das? Mein Puls raste. Ich blickte Leo an – diesen Jungen, den ich gerade erst getroffen hatte.
»Erzähl mir erst genau, wo wir hingehen«, forderte ich und hob das Kinn.
»Klar.« Leo neigte seinen Kopf zu einer Seite und verzog den Mundwinkel. »Wir gehen in das Herzstück von Selkie Island.«
»Und wo ist das?«, fragte ich und trat näher an ihn heran.
Als er lächelte, erschienen wieder die Grübchen in seinen Wangen. »Fisherman’s Village.«
KAPITEL 9
Fragen
H inter dem Nebel und den Felsen, oberhalb ein paar klappriger Holztreppen, lag der Bruchbudenstreifen aus Kneipen und Shops, der unter dem Namen Fisherman’s Village bekannt war. Während Leo und ich Hand in Hand über das mit Pfützen überzogene Kopfsteinpflaster steuerten, blickte ich umher und war ganz neugierig darauf, diesen Teil von Leos Dasein in Augenschein zu nehmen. Einem Dasein, das von dem Selkie Island, das ich bewohnte, Lichtjahre entfernt schien.
Hier waren überall schillernde rote und goldene Lichter an den Eichen befestigt und verliehen dem Ort einen festlichen Charakter. Keines der gedrungenen Häuser war auffällig, und die schäbig aussehenden Gassen erinnerten an Piraten und geschmuggelte Schätze. Leicht beunruhigt drängte ich mich näher an Leo. Fast gegen meinen Willen hörte ich T. J.s Worte in meinem Kopf: ›Nicht dass ein Mädchen wie du nach Fisherman’s Village gehen sollte.‹
Doch ich wusste gar nicht mehr, was für ein Mädchen ich eigentlich noch war.
Leo hingegen war in seinem Element, stellte mir eine ältere Dame vor, die ihren Welpen ausführte, und zeigte mir, wo sich die örtliche Leihbücherei befand. Nach und nach entdeckte ich Läden für Köder und Angelgeräte, einen Supermarkt, eine Post, eine Bank. Und ich begann zu verstehen,dass dieses Viertel die Heimat von Menschen war, die nicht von den Sommerwinden auf die Insel geweht wurden.
Als Leo mich zur Tür einer namenlosen, rostfarbenen Bretterbude führte, fühlte ich mich schon viel besser. Die Baracke beherbergte eine verrauchte Kneipe, in der sich die Gäste an mit Schrammen übersäten Tischen kleine waffelartige Kartoffelplätzchen teilten oder schäumendes Bier an der Bar tranken. Fast alle trugen Strandkleidung oder waren barfuß. An der Wand plärrte ein Fernseher. Ich lächelte und stellte mir vor, wie albern T. J. in seinem Button-down-Hemd hier ausgesehen hätte.
»Was kannst du empfehlen?«, fragte ich Leo, als wir uns in einer der abgetrennten Sitznischen niederließen und die Speisekarte zur Hand nahmen. Ich war ein wenig benommen; vielleicht lag es am Hunger, vielleicht daran, was am Strand geschehen war. Oder an beidem.
»Sie haben hier diesen tollen Seetangsalat, so eine Art lokale Delikatesse«, sagte Leo. »Aber das ist was für Kenner.« Er grinste mich an. Sein dichtes goldenes Haar begann zu trocknen, fiel ungezügelt in seine Stirn und schrie danach, weggestrichen zu werden. Der dunkelgrüne Farbton seines T-Shirts ließ seine Augen noch heller wirken.
Es war irgendwie eigenartig und zugleich wundervoll, diesen gewöhnlichen Vorgang des Essens zusammen mit Leo, der so ungewöhnlich war, zu erleben. Die Leute um uns herum mussten annehmen, dass wir uns zu einem Date verabredet hatten. Doch es kam mir vor, als ob Leo und ich diesen Punkt schon längst überschritten hätten. Wir befanden uns auf einer anderen Ebene, die nicht wirklich definiert werden konnte.
»Wie ist denn der gebackene Georgia-Rotbarsch mitKartoffelpüree?«, fragte ich und studierte die Karte. »Wollen wir uns vielleicht die Krebsfrikadellen teilen?« Ich hatte Lust auf herzhaftes, kräftiges Essen.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte Leo, während er mit dem Salzstreuer herumspielte. »Ich esse eigentlich keinen Fisch oder andere Meerestiere. Wahrscheinlich, weil ich die ganze Zeit davon umgeben bin.«
»Das klingt logisch«, erwiderte ich, öffnete den Reißverschluss von Leos Kapuzenjacke und schüttelte mein immer noch feuchtes Haar. Unter dem Tisch schlüpfte ich aus meinen feuchten flachen Schuhen. »Die Leute langweilen sich mit vertrauten Dingen, stimmt’s? In New York glotzen die Bewohner auch nie zu den Wolkenkratzern hinauf.«
»Auf dem Weg hierher hast
du
ein bisschen geglotzt«, sagte Leo und grinste mich an. Ich spürte, dass ich rot wurde. Er langte über den
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