Der Junge aus dem Meer - Roman
Tisch und strich mir eine feuchte Locke von der Wange. »Aber mach dir keine Sorgen. Es war hinreißend«, fügte er gefühlvoll hinzu.
Ich grinste zurück und spürte, wie die Energie in der Luft zwischen uns knisterte. Chemie. Nur dass es nicht die Art von Chemie war, der man in einem Labor begegnete. In gewisser Weise war es so ziemlich das genaue Gegenteil von wissenschaftlich.
Ich schreckte auf, als ein Kellner mit zwei Gläsern Wasser in unserer Nische erschien. Mit seinen tätowierten Unterarmen, dem weißen Bart und dem dazu passenden Pferdeschwanz hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Seemann auf dem Gemälde, wobei ich mir allerdings nicht vorstellen konnte, dass die gemalte Version zu solch einem warmen Lächeln fähig gewesen wäre.
»Leomaris!«, rief der Kellner und zog seinen Notizblock hervor. »Wie geht es dir?«
Ich ließ mein Wasserglas auf halbem Weg in der Luft schweben. »Wer?«, fragte ich verwirrt und blickte von Leo zu dem Kellner.
Leos Ohren wurden rot und er senkte den Kopf. »Das ist mein richtiger Name. Leomaris.«
»Erzähl ihr, was er bedeutet«, forderte unser Kellner ihn sichtlich vergnügt auf.
»König des Meeres«, murmelte Leo und klappte seine Speisekarte auf und zu. Sein Unbehagen verstärkte nur meinen Wunsch, ihn küssen zu wollen.
»Ich finde, er steht dir ausgezeichnet«, sagte ich leise. Und ich meinte es. Leo sah zu mir auf und zog dankbar seine Augenbrauen in die Höhe. Mein Herz schlug einen Purzelbaum.
»Okay, okay, ihr Turteltäubchen, was darf es sein?«, fragte unser Kellner mit einem breiten Grinsen.
Nachdem wir bestellt hatten – Krebsfrikadellen für mich, Seetangsalat für Leo –, erkundigte sich der Kellner nach Leos Eltern.
»Sie sind heute Abend draußen auf dem Boot meines Vaters«, erwiderte Leo, ließ sich zurücksinken und gab die Speisekarte zurück.
»Oh, hast du Angst, dass ihnen während des Sturms etwas passiert ist?«, fragte ich und runzelte die Stirn. Leo und der Kellner blickten sich einen Moment lang auf eine Art an, die ich nicht entziffern konnte. Der Kellner schien sich nicht schlecht zu amüsieren.
»Ich denke, es geht ihnen gut«, versicherte Leo mir und legte seine Hand auf meine. »Dies ist Miranda«, erklärte er unserem Kellner. »Sie ist über den Sommer hier.«
»Das hab ich mir schon gedacht«, sagte der Kellner zu mir. Sein Lächeln wirkte aufrichtig. »Soll ich das alles aufdeine Rechnung setzen?«, fragte er Leo, der daraufhin nickte.
Ein unangenehmes Gefühl überkam mich, und ich veränderte meine Sitzposition. Ich wollte nicht, dass Leo für unser Abendessen bezahlte; ich war mir sicher, dass es wichtiger für ihn als für mich war, sein Geld zu sparen. Doch ich spürte auch, dass die Erwähnung dieses Gedankens Leos Stolz verletzt hätte.
Als unser Kellner verschwand, blickte mich Leo nervös an und grinste schief. »Das ist schon in Ordnung, Miranda. Meine Familie bekommt in dieser Kneipe immer einen Spezialtarif. Wir sind regelmäßig hier.«
»Und ich verstehe wieso!«, rief ich, vielleicht ein wenig zu enthusiastisch. »Es ist toll hier. Ganz Fisherman’s Village ist toll.« Dann nahm ich einen Schluck Wasser und blickte Leo über den Rand des Glases an. Ich überlegte, ob meine Bemerkung vielleicht herablassend geklungen hatte, so als ob ein typischer Sommergast sie geäußert hätte. Die Wahrheit war, dass mir Fisherman’s Village tatsächlich
gefiel
; hier gab es eine Atmosphäre von Freundlichkeit, die sich viel realer anfühlte als die auf der anderen Seite der Insel herrschende Höflichkeit.
»Außerdem«, fuhr Leo fort, so als hätte ich gar nichts erwidert, und betrachtete mich auf seine typisch einfühlsame Art, »macht es mir Spaß, dir eine Freude zu bereiten. Auch wenn es nur eine Krebsfrikadelle ist.« Er drückte meine Hand und Wärme durchströmte mich.
»Danke«, gab ich murmelnd zurück. In der Hoffnung, jedes aufkeimende Ärgernis im Keim zu ersticken, lehnte ich mich über den Salzstreuer und landete einen schnellen Kuss auf seinen Lippen.
»In Ordnung«, sagte Leo und drückte noch einmal meineHand. Die kurze Anspannung war verflogen. »Ich will mehr über diese Wolkenkratzer hören.«
Während das Essen kam und wir uns darauf stürzten, erzählte ich Leo von meinem Leben in New York – meiner ambitionierten High School, der U-Bahn, der gefrorenen heißen Schokolade im Restaurant Serendipity – und ließ ein paar andere Details aus, bei denen ich lieber nicht verweilen
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