Der Junge aus dem Meer - Roman
wollte. Ich erzählte ihm von Isadoras Tod und wie dieser meine Mutter und mich nach Selkie gebracht hatte, erwähnte aber nicht, was meine Mutter persönlich mit dieser Insel verband – nämlich Mr. Illingworth.
Leo hatte, einem kleinen Jungen ähnelnd, große Augen bekommen und wollte alles Mögliche wissen: Wohnte ich tatsächlich in der Nähe vom Bronx-Zoo? Hatte ich mein Praktikum am Museum of Natural History wirklich verschoben? Fühlte sich Manhattan wie eine Insel an, wenn man sich dort befand? Ich kam überhaupt nicht dazu, eigene Fragen zu stellen.
Doch ich hatte genügend Zeit, Leo kennenzulernen. Als wir aufstanden und gingen, überlegte ich aufgeregt, was wir alles zusammen unternehmen könnten – das Research Center besuchen, Grillpartys veranstalten, abendliche Schwimmtouren machen, den 4. Juli gemeinsam erleben. Ich musste mein Praktikum in New York am fünfzehnten antreten, aber vielleicht konnte ich es ganz und gar auslassen. Mom würde wahrscheinlich bis August dableiben müssen, um den Alten Seemann zu verkaufen, und sie brauchte mich hier.
Vielleicht musste ich ja überhaupt nicht nach New York zurück.
Draußen hatte sich dicke feuchte Luft über Fisherman’s Village gelegt. Es herrschte viel Betrieb. Die Leute hatten sich nach dem Sturm wieder herausgetraut, und inder Luft hing das Rauschen und Glitzern der aufziehenden Nacht. Leo winkte einer Gruppe Halbstarker zu, die mit nackten Oberkörpern aus einer Spielhalle kamen. Sie riefen und winkten zurück, wobei ein paar von ihnen mich unverwandt von oben bis unten musterten. Doch an Leos Seite und in seiner Kapuzenjacke vergaß ich einfach, verlegen zu sein.
Als zwei dunkelhaarige Mädchen in Bikinioberteilen, Jeans und Flip-Flops an uns vorbeikamen, trällerte die eine ein melodiöses: »He-ey Leo!«, während die andere mich neugierig anstarrte. Mir wurde plötzlich klar, dass Leo bei den einheimischen Mädchen bestimmt als guter Fang betrachtet wurde. Als Leo die Mädchen begrüßte, verspürte ich einen untypischen Anfall von Besitzanspruch.
»Sieh an, Leomaris«, frotzelte ich, als die Mädchen weitergegangen waren und er mich leicht mit dem Ellbogen anstieß. »Du bist ja ganz schön beliebt, hm?«
»Ach was«, gab Leo lachend zurück und verschränkte seine Finger in meine – unsere Berührungen waren schon ganz automatisch und unentbehrlich geworden. »Eigentlich hatte ich früher noch viel mehr Freunde als jetzt.«
»Ich auch«, erwiderte ich und räusperte mich. »Wieso?«, fragte ich und blickte Leo an, nicht wissend, ob er meine Antwort gehört hatte.
Wir bogen in eine der Gassen ein, die zurück zum Wasser führten. Die Geräusche aus dem Dorf hinter uns wurden leiser, und der Geruch von Salz und Fisch schlug uns entgegen.
»Ich bekam den Job im Meereskundezentrum«, entgegnete Leo, »und treibe mich nicht mehr so viel am Strand herum. Ich hab mich verändert.« Er sah mich an, sein Gesichtsausdruck wirkte ernst. »Weißt du, fast alle, die ich kenne,arbeiten als Fischer. Mein Dad. Mein Bruder. Die Freunde meiner Eltern. Ich schätze, ich wollte wohl ein bisschen rebellieren.«
Rebellieren.
Ich blickte geradeaus auf die silbrige Oberfläche des Meeres. Ich hatte nie in Erwägung gezogen, mein genetisches Schicksal zu bekämpfen oder auch nur irgendetwas zu hinterfragen: meine Chirurgen-Eltern, meinen für die Elite-Universität gerüsteten Bruder. Mein eigenes, angeborenes Talent für die Naturwissenschaften. Meine Zukunft – eine Zukunft, in der ganz sicher Skalpelle oder Reagenzgläser vorkamen – war vorbereitet und geplant.
Musste es so sein?
»Und wie sieht dein Rebellionsplan aus?«, fragte ich, als wir das Ende der Gasse erreicht hatten.
Er zuckte mit den Achseln; die Schatten in der kleinen Straße huschten über seine hohen Wangenknochen. »Ich hab verrückte Träume. Ich möchte aufs College gehen, vielleicht in Savannah oder oben im Norden. Solange es irgendein Ort am Wasser ist.«
»Das ist gar nicht so verrückt«, erwiderte ich und drückte seine Hand. Dachten wir wohl beide gerade daran, dass New York am Wasser lag?
In der Dunkelheit drehte sich Leo zu mir um und sah mich an; sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. »Weißt du, Miranda, für Leute wie meine Familie war es über lange Generationen völlig unmöglich, woanders als auf Selkie Island zu leben.«
Ein weiteres Mal wurden mir die Unterschiede zwischen Leo und mir, die völlig verschiedenen Hintergründe, bewusst. Warum musste das
Weitere Kostenlose Bücher