Der Junge aus dem Meer - Roman
eine Rolle spielen?
»Das ist so wie in New York City.« Ich merkte, wie meine Stimme etwas höher wurde. Ich kam mir dumm vor, diesenVergleich anzustellen, wusste aber nicht, was ich sonst sagen sollte. »Die meisten Leute, die dort leben, können nicht Auto fahren. Oder nicht mal schwimmen. Sie können nur in New York existieren, an keinem anderen Ort.«
»Tja … so ist das wohl manchmal«, sagte Leo langsam und lächelte mich an. »Kannst
du
überhaupt schwimmen?«
»Ich? Ich bin wie ein Fi…«, setzte ich an. Doch in dem Moment traten wir aus der Gasse heraus und befanden uns plötzlich an einem Ort, der mir bekannt vorkam.
»Der Hafen!«, rief ich. Wir befanden uns an derselben Anlegestelle, an der ich vor sechs Tagen mit Mom gestanden hatte. Waren erst sechs Tage vergangen? Ich fühlte mich in die Miranda von damals zurückverwandelt; die Miranda, die noch keinem Jungen namens Leo begegnet war.
Direkt vor uns war das hölzerne Einfahrtstor zur Insel, das beschriftete Schild wies auf das ruhige Meer hinaus. Weit und breit waren keine Schiffe zu sehen, die seine kryptische Warnung hätten lesen können. Ich kniff die Augen zusammen und erwartete beinahe jeden Moment die Fähre ankommen zu sehen, mit Matrosenmütze am Bug.
»Ah-hah«, sagte Leo, während wir die Anlegestelle überquerten. »Erkennst du die Boote und Fischtrawler da vorne?« Er deutete auf die kleinen Kutter und Schiffchen, die am äußersten Ende des Piers festgemacht lagen und im Mondlicht tänzelten. »Einige gehören den Sommergästen, andere den Fischern. Morgens kannst du hier die Fischer mit ihren Angeln auf dem Pier sitzen sehen. Daher auch der Name Fisherman’s Village.« Leo blickte mich schief grinsend an. »Du hast die
Princess of the Deep
nach Selkie genommen, stimmt’s?«
Ich nickte. »Meine Mom hat genau hier auf mich gewartet«, erinnerte ich mich. »Dann sind wir den Weg da vornhochgelaufen«, fügte ich hinzu und deutete auf den kiesbedeckten Pfad, den Mom und ich erklommen hatten, »um zu unserem Haus zu kommen. Dem Alten Seemann.« Mir wurde plötzlich bewusst, dass Leo ja gar nicht wusste, wo ich den Sommer über wohnte. Doch ich vermutete, dass er unser Viertel sicher schon erraten hatte.
»Welch ironische Fügung.« Leos Tonfall klang amüsiert, aber auch leicht gereizt. Seine hellen grünen Augen wurden in der Dunkelheit ernst. »Die Sommergäste sind näher an Fisherman’s Village, als es den meisten lieb ist.«
Wir hielten uns noch immer an den Händen, doch mein Unbehagen kehrte zurück.
Ich wollte Leo sagen, dass ich mich den Sommergästen gar nicht zugehörig fühlte, war aber nicht sicher, ob er mir glauben würde. Mit einem Mal sehnte ich mich zurück in die Grotte, wo Leo und ich, abgeschieden vom restlichen Selkie Island, in unserer eigenen kleinen Welt existiert hatten.
»Wo führt
dieser
Weg hin?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln und zeigte auf den unbefestigten Pfad, auf den wir zuliefen. Während sich der kiesbedeckte Weg nach oben erstreckte, führte dieser nach unten. Auf einem Straßenschild stand: McCloud Way .
Ich spürte, wie sich Leo neben mir entspannte. »Lustig, dass du das fragst.« Er warf mir sein strahlendes Lächeln zu. »Er führt zu meinem Haus.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Würdest du es gern sehen?«
Leos Frage schwebte in der schwülen Abendluft. Ich dachte wieder an Mom, die im Alten Seemann auf mich wartete. Dann überlegte ich, wie ein braves Mädchen auf Leos Einladung reagieren könnte – reagieren sollte. Und dann dachte ich an Leos Küsse, seine Lippen auf meinem Hals,an einen weiteren schönen Augenblick, den wir zusammen verbringen könnten.
Es war schon so spät. Ich war schon so weit hinausgeschwommen. Warum nicht noch ein bisschen weiter?
Also nickte ich, und zusammen liefen wir den Weg hinunter, waren beide ganz still vor lauter Erwartung. Die Frage
Was machst du hier, Miranda?
versuchte sich wieder Einlass in meine Gedanken zu verschaffen, doch ich ließ sie nicht herein.
Die Backsteinhäuser am anderen Ende des unbefestigten Weges standen alle auf Pfählen – weil, wie Leo erklärte, sie nahe am Wasser lagen und den starken Gezeiten ausgesetzt waren. Der Strand spielte die Rolle des Vorgartens für diese Häuser, das hohe Seegras ersetzte gestutzte Büsche, und das Meer diente als ein einziger großer, donnernder Swimmingpool.
In den meisten Häusern brannte Licht, doch das Haus, vor dem wir stehenblieben, war völlig dunkel. Mit
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