Der Junge aus dem Meer - Roman
plötzlich einsetzender Angst erinnerte ich mich, wie Leo unserem Kellner mitgeteilt hatte, dass sich seine Eltern auf einem Boot befanden.
»Meine bescheidene Hütte«, erklärte Leo mit einer spöttischen Verbeugung, doch auch er schien nervös zu sein.
Ich betrachtete die rot angemalte Haustür mit dem goldenen Türklopfer. Die am Haus entlangführenden Regenrinnen endeten in kleinen Delphinen, aus deren Mündern das Regenwasser austreten konnte.
»Hey, das sind wirklich tolle maritime Kennzeichen«, sagte ich und verstummte dann.
Maritime Kennzeichen
– das waren nicht meine Worte. Ich hatte diesen Ausdruck irgendwo ausgeliehen. Doch wo?
»Sieh dir mal die hier an.« Leo deutete auf die kleinen geschnitztenSchildkröten, die wie gotische Wasserspeier vom Dach des Hauses aufragten. »Der Legende nach sollen sie Glück bringen.«
Als Leo das Wort ›Legende‹ gesagt hatte, fiel mir wieder ein, wo ich die maritimen Kennzeichen herhatte: Sie standen in EINE EINFÜHRUNG IN DIE LEGENDEN UND ÜBERLIEFERUNGEN VON SELKIE ISLAND
.
Heute Nachmittag, in dem Kapitel über Meerjungfrauen und Meermänner auf Selkie Island. Ich lächelte und wollte Leo fragen, ob er in seiner Kindheit auch Märchen über diese Meeresbewohner erzählt bekommen hatte, die – was hatte noch mal in dem Buch gestanden? – Behausungen nahe dem Meer hatten und die Farben Rot und Gold bevorzugten …
Ich erstarrte. Rot und Gold. Wie die Farben an Leos Haustür. Leos Haustür, die sich nahe dem Meer befand. Dem Meer, dem Leo früher am Abend entstiegen war, so als ob es völlig normal wäre, bei einem Sturm schwimmen zu gehen. Ohne darüber nachzudenken wanderte mein Blick über Leos gebräunte muskulöse Beine, als ob ich erwartete … was?
Einen Fischschwanz zu sehen?!
Oh, mein Gott. Jetzt war es ganz offiziell. Ich war verrückt geworden.
»Was ist los?«, fragte Leo. Er ließ meine Hand los und stellte sich vor mich, sodass wir uns direkt ansehen konnten. »Miranda? Du bist ganz blass.«
Ich holte tief Luft und versuchte, mich zu beruhigen. Doch im gleichen Moment fiel mir auch ein, dass Leo keinen Fisch und keine Meeresfrüchte aß und stattdessen den Seetangsalat mit großem Appetit verschlungen hatte. Ich zerbrach mir das Hirn, versuchte mich zu erinnern, was Llewellyn Thorpe über Meerjungfrauen und Meermännergeschrieben hatte. Mir fiel ein, dass ich gelesen hatte, sie seien Nachtschwärmer. Hatte Leo nicht gesagt, dass ich ihn eher abends finden könnte? Meine Gedanken kreisten unablässig um eine verdrehte Form von Logik.
Leo nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mich an. »Bist du in Ordnung? Deine Wangen sind ganz warm. Fühlst du dich nicht wohl?«
Irgendetwas stimmte
tatsächlich
nicht mit mir. Mein Gesicht fühlte sich heiß an. Vielleicht hatte ich vom Aufenthalt im Regen Fieber bekommen. Patienten mit hohem Fieber litten manchmal an Halluzinationen.
»Schon in Ordnung«, erwiderte ich schließlich. Sobald ich meine eigene Stimme gehört hatte, wurde mir klar, wie dumm ich war. Es war spät und ich war müde. Das war alles. »Ich hatte bloß so einen komischen Gedanken«, fügte ich hinzu und lachte zögernd.
Ich wollte Leo erzählen, dass ich ihn mir als Meermann vorgestellt hatte, sodass er mit mir lachen konnte. Aber der bloße Gedanke war einfach zu absurd, um ihn auszusprechen.
Meermann.
»Komm rein«, sagte Leo und zog mein Gesicht näher an seins. »Ich geb dir was zu trinken, und du kannst dich ein bisschen hinlegen.«
Ich zögerte. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch, und die waren dort schon seit dem Nachmittag, an dem ich Leo für unseren Strandspaziergang getroffen hatte. Stammten diese Symptome von meinen Gefühlen für Leo oder war es die Funktionsweise meines Körpers, mich vor irgendetwas zu warnen? Irgendeiner Art von … Gefahr?
Was hatte Matrosenmütze auf der Fähre zu mir gesagt? ›Achte darauf, wem du begegnest – im Wasser und an Land.‹
Als ich nicht auf Leos Angebot reagierte, legte er seinenKopf schräg und küsste sanft meinen Mundwinkel, dann glitten seine Lippen auf meine.
Wie schon zuvor brachte die Intensität seines Kusses meinen Körper dazu, sich wie ein Blütenblatt zu entfalten, und ich erwiderte seinen Kuss. Doch dann tauchte Leo eine Hand in mein Haar – das offen, lockig und vom Regen zerzaust war – und ließ die andere Hand zu meiner Taille hinabsinken, wo seine Finger die Haut zwischen meinem T-Shirt und meiner Caprihose streichelten.
Komm herein. Leg dich
Weitere Kostenlose Bücher