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Der Junge aus dem Meer

Der Junge aus dem Meer

Titel: Der Junge aus dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Weidenmann
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Krankenwärter: „Sagt mal, habt ihr was zum Anziehen für ihn. Es wäre besser, wenn er aufsteht.“
    „Kein Problem“, erwiderte Karlchen Kubatz und trommelte die übrigen Glorreichen Sieben zusammen. Fritz Treutlein hatte eine gelbe Cordhose, die dem fremden Jungen wie angegossen paßte , Paul Nachtigall fand ein rot-blau kariertes Hemd in der richtigen Größe, und Emil Langhans spendierte ein Paar Tennisschuhe.
    Und jetzt passierten zwei wichtige Dinge beinahe gleichzeitig. Als der Boß der Glorreichen Sieben dem fremden schwarzhaarigen Jungen sein rot-blau kariertes Hemd zuwarf, erstarrte der andere mitten in der Bewegung wie ein Film, der plötzlich angehalten wird. Er blickte Paul Nachtigall mit großen Augen an, und dann sagte er: „Dich hab’ ich zuerst gesehen, und du hast mir das Leben gerettet.“
    „Nu quatsch hier keine Opern“, erwiderte der Boß der Glorreichen Sieben. Er hatte ganz rote Ohren bekommen und war verlegen, als hätte er aus Versehen an einer falschen Tür geklingelt. „Der Kragen paßt bestimmt, nur die Ärmel könnten zu lang sein“, meinte er, um wenigstens irgend etwas zu antworten.
    Der andere Junge hatte sich inzwischen das rot-blau karierte Hemd über den nackten Oberkörper gezogen. Die Ärmel waren wirklich zu lang. Er lächelte und drehte sich um. Dabei entdeckte er einen Spiegel, der über dem Waschbecken an der Wand hing. Einen Augenblick zögerte er. Aber dann machte er die zwei oder drei Schritte, bis er ganz dicht vor seinem Spiegelbild stand. Und da erstarrte er zum zweitenmal . Er betrachtete sich eine lange Weile ganz genau und ohne sich zu bewegen.
    „Bin ich das?“ fragte er schließlich leise.
    „Laß doch den Quatsch“, protestierte Emil Langhans.
    „So seh’ ich also aus“, stellte der fremde Junge verwundert fest. „Ich habe mich nämlich noch nie gesehen.“
    „Das kann doch nicht wahr sein“, japste Karlchen Kubatz. „So was gibt’s doch gar nicht!“
    Als die Glorreichen Sieben diese Geschichte ein paar Minuten später den anderen im Erdgeschoß erzählten, schlug sich der sommersprossige Florian auf die Schenkel und wollte sich ausschütten vor Lachen. „Der macht sich doch nur lustig über euch, ihr Armleuchter.“ Und auch Fräulein Emma Zobelmann kicherte: „Wäre ja noch schöner, wenn einer nicht wüßte, wie er aussieht. Ich kenne jede Falte in meinem Gesicht, und leider kommt immer wieder eine neue dazu.“
    Aber schon spätestens nach dem gemeinsamen Frühstück war allen das Lachen gründlich vergangen.
    Die Glorreichen Sieben saßen nebeneinander wie Hühner auf der Fensterbank, Großmutter Kubatz lehnte in ihrem Ohrensessel, und Fräulein Emma Zobelmann ließ Abwasch Abwasch sein. Florian mit dem Sommersprossengesicht lehnte an der Tür, und das Ehepaar Kubatz hatte auf einer alten Truhe neben dem Klavier Platz genommen. Und vor diesem Klavier saß der fremde Junge mit den pechschwarzen Haaren und spielte.
    Professor Stoll hatte die Hände auf den Rücken gelegt und spazierte nachdenklich hin und her.
    „Phantastisch“, flüsterte Karlchen Kubatz aufgeregt.
    „Ja, wirklich phantastisch“, wiederholte Professor Stoll immer noch ganz in Gedanken. „Aber du weißt gar nicht, was du da spielst?“ Er stand jetzt neben dem Jungen und blickte ihn an. „Ich meine den Namen der Stücke oder des Komponisten hast du vergessen?“
    An Stelle einer Antwort legte der Gefragte wieder seine Hände auf die Tasten. Er spielte jetzt eine ganze Weile Jazz, Rock und auch Volkslieder wie Kraut und Rüben durcheinander. Und dann warf er auf einmal erschöpft den Kopf zurück, drehte sich auf dem runden Klaviersessel herum und hatte die Augen geschlossen. Wie ein Pianist, der sich gerade die Seele aus dem Leib gespielt hat und sich danach seinem Publikum zuwendet.
    Fräulein Emma Zobelmann klatschte in die Hände. Aber als sie bemerkte, daß alle anderen sich überhaupt nicht rührten, ließ sie es wieder sein.
    „Fassen wir zusammen“, sagte Professor Stoll und spazierte, immer noch die Hände auf dem Rücken, wieder hin und her. „An alles, was seit deinem Aufwachen am Strand passiert ist, kannst du dich genau erinnern? So ist es doch?“
    „Ja, so ist es“, bestätigte der fremde Junge.
    Herr Kubatz paffte an seiner Pfeife und beugte sich gespannt mit den Ellenbogen auf seine Knie.
    „Und alles, was davor liegt, hast du vergessen?“ Professor Stoll wanderte gerade durch das helle Viereck, das die Sonne auf den Zimmerboden warf.

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