Der Junge aus dem Meer
hat er nicht.“
„Überhaupt nicht“, bestätigte Alexander, der sich gerade wieder sein rot-blau kariertes Hemd über die Schultern zog.
„Was, um alles in der Welt, ist es dann?“ wollte Großmutter Kubatz ein paar Minuten später wissen.
Die drei hatten sich aus der Arztpraxis sofort wieder zum Seestern zurückbegeben, und dort waren im Erdgeschoß noch immer alle Bewohner des Hauses versammelt. Es hatte morgens geregnet, und der Himmel war seitdem bewölkt.
„Ich quatsche jetzt ganz ohne Girlanden“, bemerkte Professor Stoll und ließ sich mit seiner ganzen Länge in einen Sessel fallen.
„Was meinen Sie damit?“ fragte Frau Kubatz bescheiden.
„Daß ich ganz offen sagen will, was ich weiß und was ich denke“, erwiderte Professor Stoll. „Das ist das beste für — hm — Alexander, und es ist das beste für uns alle, die wir Hals über Kopf in diese Geschichte hineingestolpert sind.“ Er drückte seine Zigarette aus und faltete seine schlanken Hände über den Knien. „Fassen wir also doch einmal zusammen.“ Er schloß für einen kurzen Moment die Augen, dann fuhr er fort: „Was in dieser Gewitternacht passiert ist, davon haben wir nicht die geringste Ahnung. Nur folgendes wissen wir: Da liegt am nächsten Morgen ein Junge am Strand, und als er aufwacht, kann er sich an nichts mehr erinnern. Wenn es nur nach seinem Gedächtnis ginge, ist es genauso, als hätte er vorher überhaupt nicht gelebt.“ Professor Stoll drehte seinen Kopf mit den schneeweißen Haaren zur Seite. „Du korrigierst mich, wenn ich etwas Falsches sage oder wenn ich mich nicht genau genug ausdrücke?“
„Bisher stimmt alles“, bestätigte der schwarzhaarige Junge mit dem vorläufigen Namen Alexander.
„Alles andere, was nicht mit dem Gedächtnis zusammenhängt, funktioniert einwandfrei“, überlegte Professor Stoll weiter. „Er atmet normal, putzt sich die Zähne, kann gehen und sicherlich auch schwimmen, denn sonst wäre er wohl bei dem Sturm in jener Nacht ertrunken.“ Jetzt stand Professor Stoll auf und spazierte wieder einmal nachdenklich durch das große Zimmer. „Und ich wette, er kann auch mit dem Fahrrad fahren, wenn er sich auf den Sattel setzt.“ Der weißhaarige Arzt blieb jetzt stehen, weil es plötzlich im Zimmer ganz hell wurde. Er beobachtete Alexander eine Weile, bevor er weitersprach. „Und auch die Sonne, die da gerade durch die Wolken bricht und durch die Fenster zu uns hereinguckt, verwirrt ihn nicht. Tag und Nacht, Wind und Wasser, Schlafen und Essen, das alles kennt er, hat es nicht vergessen.“
„Sie haben gleich am Anfang von einem Schock gesprochen, den er ganz bestimmt erlebt hätte“, äußerte sich jetzt Großmutter Kubatz. „Kann nicht dieser Schock eine ganz einfache und selbstverständliche Erklärung sein? Dieser Schock geht vorbei, und alles ist wieder, wie es vorher war.“
„Ich fürchte, daß es mehr ist“, meinte Professor Stoll nachdenklich. „Ein Schock ist eine teilweise Nervenlähmung, die aber im allgemeinen nicht so lange dauert. Oft nur Augenblicke, aber höchstens ein paar Stunden. Nein, ich fürchte, es ist eine Art Amnesie, deren Ursache...“
„Was ist eine Amnesie?“ fragte Karlchen Kubatz neugierig.
„Und was würde das bedeuten?“ fügte der Junge mit den pechschwarzen Haaren leise hinzu.
„Es könnte sein, daß du dein Gedächtnis verloren hast“, antwortete Professor Stoll und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. „Eine Amnesie verschluckt die Erinnerung, und man kann nie wissen, wie lange sie dauert. Allmählich kehrt das Gedächtnis zurück. Vielleicht in zwei Tagen, manchmal in ein paar Stunden.“
„Oder in zwei Jahren?“ fragte der Junge, der einstweilen Alexander hieß. „Könnte das auch sein?“
„Natürlich habe ich mir genau überlegt, ob ich dir so offen sagen soll, was ich vermute“, erwiderte Professor Stoll. „Und auf Vermutungen bin ich vorerst angewiesen, weil das nicht mein Fachgebiet ist. Aber eines weiß ich mit absoluter Sicherheit: Du selbst mußt mithelfen, dein Gedächtnis zurückzuholen. Immer wieder mußt du dich zu irgendeiner Erinnerung zwingen. Ohne deine eigene Mitarbeit geht es nicht. Und jede Viertelstunde, die du damit noch wartest, wäre verloren. Nur deshalb habe ich so offen mit dir gesprochen und nicht geheimnisvoll den Mund gehalten.“ Professor Stoll sprang auf die Beine und ging die paar Schritte zu Alexander hinüber: „Ich habe schon mit einem guten Freund in Hamburg telefoniert.
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