Der Junge aus dem Meer
jedesmal tief Luft. Aber schließlich erreichten sie den Molkereiwagen, und kurz darauf holperte der schwarzhaarige Junge, den vermutlich in der vergangenen Gewitternacht die Flut an den Strand geworfen hatte, zwischen großen, klappernden Milchkannen und Butterkisten über die Landstraße. Der Fahrer hatte ihm seinen weißen Kittel über die Schultern gehängt, aber trotzdem zitterte der Junge aus dem Meer jetzt vor Kälte am ganzen Körper.
Bei den Lagerhallen, kurz vor dem Dorf, kam der Chefredakteur der Bad Rittershuder Nachrichten in seinem knallroten Flitzer um die Kurve geprescht. Karlchen Kubatz und Hans Pigge standen so halb auf dem Beifahrersitz und hielten sich an der Windschutzscheibe fest. Sie blickten sich um wie Kapitäne auf einer Kommandobrücke. Trotzdem entdeckten sie Paul Nachtigall, der ihnen mit ausgebreiteten Armen Zeichen machte, erst im Vorbeifahren. Sofort trat der Zeitungsmann auf die Bremse, daß es nur so quietschte, wendete, holte den Molkereiwagen ein und fuhr neben ihm her.
„Was ist?“ rief Karlchen.
„Wir haben ihn hier bei uns“, brüllte Paul Nachtigall zurück. „Sollen wir mit ihm in irgendeine Klinik oder was Ähnliches?“
„Vorerst ins Haus Seestern“, gab Herr Kubatz zurück. „Ich bereite schon alles vor.“ Danach gab er wieder Gas und sauste los, als ginge es um den Großen Preis vom Nürburgring.
Als der Molkereiwagen kurz darauf an dem weißen Zaun vorbei durch die Mulde fuhr und dann am Haus Seestern zum Stehen kam, warteten bereits Großmutter Kubatz und Fräulein Emma Zobelmann vor der Tür. Die Frau des Chefredakteurs kam gerade mit Karlchen, der sie wohl alarmiert hatte, von der Blockhütte herübergelaufen.
„Zuerst mal ins Erdgeschoß auf das Sofa“, kommandierte Großmutter Kubatz. „Und zieht ihm sofort seine nassen Hosen aus, so holt sich der Junge ja den Tod.“ Sie schickte Fräulein Zobelmann nach Bettdecken und flitzte höchstpersönlich in den ersten Stock, um Badetücher zu holen.
Inzwischen öffnete Paul Nachtigall dem fremden Jungen den breiten Ledergürtel und zog ihm seine nassen Blue Jeans und eine genauso nasse Badehose über die Beine.
„Ich werde ja wohl jetzt nicht mehr gebraucht?“ fragte gleichzeitig der Molkereifahrer, der sich inzwischen wieder seinen weißen Kittel angezogen hatte. „Sonst wird mir auf meinem Lieferwagen nämlich die Milch sauer. Und das wäre nicht im Sinne des Erfinders.“
„Besten Dank jedenfalls“, sagten Fritz Treutlein und Manuel Kohl ziemlich gleichzeitig. „Es war sehr freundlich, daß Sie gleich angehalten und uns geholfen haben.“
„War doch nur selbstverständlich“, meinte der Mann von der Molkerei aus Hörnum. „Und zudem hab’ ich meinen Kunden ja jetzt was zu erzählen. Daß ein Junge wie eine leere Bierflasche angeschwemmt wird, passiert schließlich nicht alle Tage.“
Als er gerade die Tür aufmachte, hörte man von draußen zuerst einen Motor aufheulen und dann das Kreischen von Bremsen. Gleich darauf stand Herr Kubatz im Zimmer und sagte: „Das muß er sein.“ Denn er hatte den fremden Jungen ja bisher genausowenig gesehen wie der weißhaarige Professor Stoll, den er gerade im Eilzugstempo aus seiner Praxis hierhergeschleppt hatte.
Großmutter Kubatz und Fräulein Zobelmann hatten den fremden Jungen inzwischen so tief in Badetücher und Decken gepackt, daß nur noch sein schwarzhaariger Kopf ins Freie guckte.
„Na, was machen wir denn für Sachen?“ fragte der hochgewachsene Professor, der auch aufpassen mußte, daß er nicht gegen die niedrigen Deckenbalken stieß.
Der Kopf über den Badetüchern und Decken gab keine Antwort. Er blickte nur mit großen und neugierigen Augen von einem Gesicht zum anderen.
„Stumm wie ein Fisch“, sagte Fräulein Zobelmann sorgenvoll. „Er hat noch kein einziges Wort gesprochen, der arme Junge.“ Jetzt schluchzte sie, und es sah ganz so aus, als seien Tränen unterwegs.
„Noch kein Grund zum Jammern“, bemerkte Professor Stoll, stellte dabei seine lederne Handtasche neben das Sofa und ließ ihre Schlösser aufschnappen. „Und jetzt, meine Herrschaften, wäre ich für eine Weile mit dem Patienten ganz gern allein“, sagte er abschließend. „Nur wenn Gustchen bei mir bleiben würde, falls ich etwas brauche.“
„Selbstverständlich, Herr Professor“, erwiderte der Chefredakteur der Bad Rittershuder Nachrichten und verdrückte sich zusammen mit allen übrigen nach draußen vor die Tür. Nur Großmutter Kubatz blieb bei
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