Der Junge aus dem Meer
schwarzhaarige Junge in einem kleinen Eckzimmer unter dem Dach so tief und fest, wie man nur schlafen kann.
Professor Stoll hatte gebeten, ihn sofort zu rufen, wenn der Patient wieder aufwachen würde. Und bis dahin sollte er keine Minute allein bleiben.
„Er hat ja überhaupt keine Vorstellung davon, wo er sich befindet“, erklärte der Arzt. „Und da könnte es sein, daß er völlig unberechenbar reagiert, wenn er nach seinen bestimmt schauerlichen Erlebnissen wieder aufwacht.“
„Sie können sich auf uns verlassen“, versicherte Paul Nachtigall im Namen der Glorreichen Sieben. „Wir übernehmen die Krankenwache. Und zwar jeweils zu zweit. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“
„Na, dann bin ich ja beruhigt“, lächelte Professor Stoll, zog wieder den weißhaarigen Kopf ein, als er zur Tür ging, und ließ sich von Herrn Kubatz in seine Praxis zurückfahren. „Jetzt aber schön langsam“, sagte er noch beim Einsteigen in den knallroten Flitzer. „Meine Patienten brauchen mich noch, und das Leben kann zeitweise so schön sein.“
Als Professor Stoll am frühen Nachmittag wieder vorbeischaute, schlief der Junge aus dem Meer immer noch. Und als er nach dem Abendessen erneut auftauchte, war der Zustand immer noch unverändert.
„Es kann uns nichts Besseres passieren“, meinte er zufrieden. „Sein Puls ist schon wieder normal. Wie gesagt, wenn er aufwacht, bitte ich sofort um Anruf. Auch wenn es mitten in der Nacht ist.“ Zu Hause stellte er deshalb das Telefon neben sein Bett. Aber er hätte sich diese Vorsichtsmaßnahme sparen können.
Der schwarzhaarige fremde Junge erwachte erst wieder am nächsten Morgen.
„Genau neun Uhr achtundzwanzig“, flüsterte Karlchen Kubatz, der gerade zusammen mit Fritz Treutlein Krankenwache hatte. Er prüfte die Zeit zum zweitenmal auf seiner Taschenuhr und machte sich eine Notiz. Man konnte nie wissen.
Zuerst schlug der junge Patient nur die Augen auf. Er blickte um sich, aber er schien weder seine beiden Krankenwärter noch irgend etwas anderes zu erkennen. Allerdings waren die Vorhänge zugezogen, damit die Sonne nicht ins Zimmer schien.
Jetzt schlich sich Karlchen Kubatz an den Hausapparat und nahm den Hörer ab. Fräulein Emma Zobelmann meldete sich am anderen Ende der Leitung.
„Es ist soweit“, flüsterte Karlchen.
„Ein Wunder“, staunte Fräulein Emma Zobelmann. „Ich kann es noch gar nicht fassen.“
„Fassen Sie es, Fräulein Zobelmann, und zwar schnell“, flüsterte Karlchen Kubatz wieder. „Machen Sie sich auf die Socken, und sagen Sie bitte postwendend meinem Vater Bescheid.“
Schon fünf Minuten später kam Professor Stoll im Laufschritt die Treppe herauf. Er nahm mit Leichtigkeit zwei Stufen auf einmal. Der Chefredakteur der Bad Rittershuder Nachrichten hatte Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben. Als die beiden die Tür zum Krankenzimmer aufmachten, hatte sich der junge Patient gerade aufgesetzt.
„Guten Morgen“, sagte Professor Stoll vergnügt. „Wie fühlst du dich?“
„Wo bin ich?“ fragte der schwarzhaarige Junge nach einer Weile.
Professor Stoll zog die Vorhänge zur Seite und ließ die Sonne herein. „Du bist im Haus Seestern, mein Sohn. Und das liegt bei Rantum auf der Insel Sylt. Sagt dir das etwas?“
Der schwarzhaarige Junge überlegte und blickte dabei von einem zum anderen. Dann schüttelte er den Kopf wie ein Schüler, der im Unterricht eine Frage nicht beantworten kann und das eigentlich nicht begreift.
„Darf ich zuerst einmal deinen Namen erfahren?“ sagte jetzt Professor Stoll freundlich und setzte sich dabei neben dem Jungen auf die Bettkante. „Und was macht dein Rücken? Laß mal sehen.“
Der Junge blickte immer noch wortlos zuerst zu dem Arzt und dann zu den anderen. Dann drehte er sich um und zeigte seinen Rücken.
„Aber du wirst doch deinen Namen wissen?“ lächelte Professor Stoll, während er den Rücken untersuchte. „Das sieht alles schon wieder sehr gut aus, du kannst dich umdrehen. Also, wie heißt du, und wo kommst du her?“
Jetzt machte der Junge in dem Bett den Eindruck, als würde er sich echt Mühe geben, sich an etwas zu erinnern. Aber schließlich schüttelte er den Kopf und sagte jetzt nur: „Sie sind so freundlich zu mir, und ich danke Ihnen...“
Eine Weile blickte Professor Stoll den Jungen nachdenklich an. Dann strich er ihm plötzlich durchs Haar: „Was du jetzt zuerst einmal brauchst, ist ein gutes Frühstück.“ Dabei stand er auf und fragte die zwei
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