Der Junge aus dem Meer
meinte der Chefredakteur der ZENTRALEN PRESSE-AGENTUR etwas versöhnlicher. „Und dieser Junge ohne Gedächtnis ist ein verdammt dicker Fisch. Und das gerade jetzt, in dieser Sauren-Gurken-Zeit, wo sogar die Einbrecher Urlaub machen. Es ist zum Verzweifeln. Nichts passiert. Die Zeitungen suchen nach Nachrichten wie Kamele nach Wasser in der Sahara. Und da fällt ausgerechnet Ihnen so ein Superding in den Zylinder.“ Herr Splettstößer holte tief Luft. „Ich bin nicht nachtragend, und ich habe sogar ein gewisses Verständnis für Ihre bisherige Taktik, wenn Sie wissen, was ich meine...“
„Ich glaube, daß ich Ihren Ausführungen folgen kann“, schmunzelte Herr Kubatz.
„Ich möchte in Ihrem Interesse hoffen, daß Sie das auch in den nächsten fünf Minuten noch können“, erwiderte Chefredakteur Splettstößer. „Um es ganz kurz zu sagen: Wir sind die größte Presseagentur im Lande, und es ist ganz einfach ausgeschlossen, daß wir unsere Zeitungen nicht ab sofort mit Berichten und Fotos von dem Jungen ohne Gedächtnis beliefern können. Das darf es ganz einfach nicht geben. Wir sind schon jetzt bis auf die Knochen blamiert. Für die Zeitungen sind immer noch wir hier in Hamburg der Nabel der Welt und nicht Ihre Provinzzeitung in Bad Rittershude. Entschuldigung, aber das muß einmal gesagt sein. Aber wir verquatschen nur die Zeit.“
„Ich habe bisher kaum fünf Worte gesprochen“, wagte Herr Kubatz zu bemerken.
„Jetzt ist die Geschichte noch eine echte Sensation“, ließ sich Herr Splettstößer wieder hören. „Und es ist haargenau diese einmalige Mischung von Spannung, Abenteuer und Herz. Aber schon in einer Stunde kann das alles Schnee von gestern sein. Wenn sich nämlich die Eltern finden und bei dem Jungen das Gedächtnis wieder funktioniert, sobald sie ihn in die Arme nehmen. Aus, vorbei, und alles durch Ihren Dickkopf verschenkt.“ Herr Splettstößer in Hamburg sprach jetzt so eindringlich wie nur möglich. „Sagen Sie mir Ihre
Adresse, und ich setze sofort einen Fotografen in Marsch. Er versteht sein Geschäft und weiß, welche Bilder gebraucht werden.“ Der Chef der ZENTRALEN PRESSE-AGENTUR flüsterte jetzt beinahe: „Und Sie, Herr Kubatz, sind in dieser Sache unser einziger Sonderberichterstatter mit voller Namensnennung in allen Zeitungen. Die Honorarfrage lösen wir großzügig.“
„Der Vorschlag lächelt mich an“, gab Herr Kubatz ehrlich zu. Und beinahe im gleichen Augenblick rief er in den Hörer: „Entschuldigung, ich bin gleich wieder da.“ Während des Telefonats hatte der Chefredakteur der Bad Rittershuder Nachrichten nämlich schon eine ganze Weile lang, ohne sich allerdings dabei etwas zu denken, draußen vor dem Fenster die beiden Pferde Peter und Paul beobachtet. Sie waren vergnügt durch den Hof getrabt und dann stehengeblieben, hatten ihre Schnauzen aneinandergerieben, als ob sie sich etwas zu sagen hätten, und trotteten jetzt nebeneinander durch das offenstehende weiße Holztor. Vermutlich hatten sie sich vorgenommen, einmal allein und ohne Aufsicht einen Ausflug auf die Insel zu machen.
Herr Kubatz, dem es jetzt endlich eingefallen war, daß der sommersprossige Florian in seinem Auftrag durch die Gegend radelte, legte den Hörer neben den Apparat und sauste los. Aber da Zeitungsleute von Pferden genausoviel verstehen wie Eichhörnchen von der höheren Mathematik, brauchte er gute fünf Minuten, bis er die Pferde wieder in den Hof zurückgeholt und das Holztor hinter ihnen geschlossen hatte.
Jetzt lief er wieder ins Haus zurück. Hier blieb er plötzlich wie festgefroren stehen. Der Telefonhörer lag nämlich nicht mehr neben dem Apparat. Er war aufgelegt. Zuerst dachte Chefredakteur Kubatz schnell an ein Wunder, dann kurz an die Heinzelmännchen. Aber gleich darauf brüllte er: „Emma!“
Fräulein Zobelmann kam fast augenblicklich mit ihrer blütenweißen Schürze und einer Gießkanne ins Zimmer. Und bevor Herr Kubatz ein einziges Wort sagen konnte, blickte sie ihn vorwurfsvoll an und meinte: „Sie gehen spazieren und lassen Ihre Freunde an der Strippe verhungern. Das ist nicht sehr höflich, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.“
Daraufhin ging sie zum Fenster und gab den Blumentöpfen frisches Wasser.
„Was war hier los?“ fragte Herr Kubatz. Er gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben, aber er sagte doch: „Hören Sie, um Himmels willen, für eine Minute mit dem dämlichen Blumengießen auf!“
„Ich bin ins Zimmer gekommen, und da
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