Der Junge aus dem Meer
man schon annehmen konnte, seine Nummer hätte ihren Höhepunkt erreicht, begab er sich von der Bühne herunter plötzlich ins Publikum. Er hatte ein Mikrofon bei sich und plauderte mit ein paar Besuchern besonders höflich. Er gab ihnen sogar die Hand, wünschte ihnen noch einen schönen Abend und bedauerte schließlich, daß es ihm nicht möglich sei, so jeden Besucher einzeln zu begrüßen. Dabei wanderte er auf die Bühne zurück und fragte so nebenbei: „Sollte jemand im Saal zufällig irgend etwas vermissen? Bitte haben Sie doch die Freundlichkeit nachzusehen.“
Jetzt stellte sich heraus, daß Direktor Morgano bei seinem Spaziergang durch das Publikum die Feriengäste nach Strich und Faden beklaut hatte. Und niemand hatte es bemerkt.
„Meine Armbanduhr ist weg!“ rief eine Dame.
„Meine Brieftasche“, lachte ein Herr, der aus der Gegend von Köln sein mußte.
„Meine Halskette!“
Herr Morgano zauberte alles wieder unter seinem nachtblauen Frack hervor, und das Publikum jubelte vergnügt. Die Bestohlenen mußten auf die Bühne kommen und unter dem schadenfrohen Gelächter des übrigen Publikums ihre Sachen zurückholen.
Die letzten Besucher hatten sich noch nicht beruhigt, als sich alle Scheinwerfer auf den Mittelpunkt des Podiums konzentrierten. Dort stand plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, ein untersetzter Mann von etwa fünfzig Jahren. Er trug einen schwarzen Smoking mit einem Umhang aus Seide. Sein Gesicht war so blaß wie ein gekochter Fisch, und seine Augen waren auffallend groß und seltsam verschleiert.
Aus dem Lautsprecher war zuerst wieder einmal ein dreifacher Tusch gekommen, und dann hatte eine laute Stimme angekündigt: „Psycho, das Wunder der Hypnose.“
Jetzt war nur noch leise orientalische Musik zu hören.
Der Mann in dem schwarzen Smoking mit dem Seidenumhang stand noch eine Weile ohne Bewegung da. Dann zogen die Scheinwerfer wieder ihre Lampen auf und warfen bläuliches Licht über die ganze Bühne.
Der Mann, der sich „Psycho“ nannte, warf die linke Seite seines Umhangs über die Schulter und kam bis an die Rampe: „Was Psychose ist, muß ich Ihnen, meine Damen und Herren, ganz bestimmt nicht erklären. Ich werde versuchen, Ihnen einige Experimente vorzuführen, und bitte zu diesem Zweck Personen aus dem Publikum hierher zu mir auf die Bühne. Ich kann Ihnen versichern, daß Ihnen überhaupt nichts passieren kann.“ Er blickte sich im Saal um. „Aber vielleicht machen Sie Erfahrungen, die Sie bis zu diesem Augenblick nicht gemacht haben und die interessant für Sie sind.“
Die ersten Besucher standen nur zögernd von ihren Stühlen auf. Aber zwei junge Männer in blauen Rollkragenpullovern wirkten offensichtlich ansteckend. Als sie sich lachend durch die Sitzreihen zur Bühne drängten, folgten ihnen immer mehr andere Badegäste.
„Besten Dank, das genügt, meine Herrschaften“, sagte der Mann, der sich „Psycho“ nannte. Er hatte jede Person, die zu ihm auf das Podium gekommen war, mit Handschlag begrüßt. Dabei hatte das Publikum aber auch bemerkt, daß er drei oder vier Besucher wieder höflich auf ihre Plätze zurückschickte. Schließlich warteten etwa zwanzig Kandidaten verschiedenen Alters, Frauen und Männer, auf der Bühne. Stühle waren bereitgestellt worden, und sie hatten nebeneinander in langen Reihen Platz genommen — wie im Wartezimmer eines Zahnarztes.
„Ich habe leider einige Herrschaften bitten müssen, auf eine Mitwirkung zu verzichten“, entschuldigte sich jetzt der untersetzte Mann im schwarzen Smoking. „Aber nicht jede Person ist zur Hypnose geeignet. Es würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen, um die Behauptung zu begründen.“ Dabei war er jetzt wieder bis ganz vorn an die Rampe gekommen und blickte mit seinen grüngrauen Schleiereulenaugen direkt in die dritte Reihe zu den Glorreichen Sieben. „Und von euch ist keiner neugierig genug?“ fragte er. Die Jungen blickten sich gegenseitig an und schauten dann zu Chefredakteur Kubatz und Professor Stoll. Beide Herren schmunzelten und nickten mit den Köpfen. Und Fräulein Emma Zobelmann flüsterte: „Los, ihr Feiglinge!“
„Also dann, zwei oder drei, wenn ich es vorschlagen darf?“ meinte der Mann namens „Psycho“. Und als kurz darauf Paul Nachtigall und Karlchen Kubatz auf die Bühne kletterten, applaudierte das gesamte Publikum fast noch einmal so laut wie zuvor. Anschließend setzte es sich gemütlich in seinen Stühlen zurecht, weil es einen besonderen Spaß
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