Der Junge aus dem Meer
jetzt allein mit Großmutter Kubatz im Haus Seestern saß, aber dann ging im Zuschauerraum das Licht aus, und bunte Scheinwerfer konzentrierten sich auf die Bühne. Gleichzeitig vibrierten die Lautsprecher unter einem lauten und dreifachen Tusch.
Ein purpurroter Vorhang wurde auseinandergeschlagen, und Direktor Morgano erschien mit ausgebreiteten Armen. Er begrüßte seine Gäste, dankte für den Besuch und wünschte allen noch viel Sonne und schöne Ferien.
Die Musik spielte wieder einen Tusch, ein großes Tuch, auf dem mit goldenen Buchstaben INTERNATIONALE ARTISTIK zu lesen war, fiel von der Decke, und Direktor Morgano rief: „Die Show beginnt!“
Beinahe gleichzeitig dröhnte Beatmusik aus den Lautsprechern, und ein halbes Dutzend Mädchen wirbelten aus allen Ecken auf die Bühne, warfen die schlanken Beine in die Luft und lächelten tapfer auch dann noch ins Publikum, als ihnen nach einiger Zeit allmählich die Luft knapp wurde.
„Na, das fängt ja gut an“, flüsterte Professor Stoll, als er sich an den Glorreichen Sieben vorbei auf seinen Platz schlich, den ihm Herr Kubatz zwischen sich und Fräulein Emma Zobelmann freigelassen hatte. „Entschuldigung, ich habe mich leider verspätet.“
„Aber nichts versäumt“, entgegnete Herr Kubatz und gab dem verspäteten Besucher sein Programmheft. „Gleich ist ein Jongleur an der Reihe!“
Alle Künstler hatten natürlich klangvolle Namen und wirkungsvolle Kostüme.
Die Nummer zwei wurde als der „Große Rinaldo“ angekündigt. Er trug einen weißen Smoking und jonglierte zuerst mit silbernen Keulen und dann mit Blumenvasen. Er ließ sie auf seinen Schuhspitzen balancieren, warf gleichzeitig andere mit den Händen in die Luft und fing sie mit dem Kopf wieder auf.
Dann sprang ein junger Mann in einem Cowboykostüm auf die Bühne und machte einige Kunststücke mit dem Lasso. Anschließend stellte er ein junges Mädchen, das als Indianerin verkleidet war, vor ein Brett, das wohl einen Marterpfahl darstellen sollte, und dann betätigte er sich als Messerwerfer. Die Klingen schlugen jeweils dicht neben dem Mädchen ins Holz — am Schluß war sie von den Messern eingerahmt. Sie machte ein paar Tanzschritte nach vorn und verbeugte sich.
Jetzt fragte der Cowboy das Publikum, ob irgend jemand Lust hätte, seinen Mut zu beweisen und zugleich fünfzig Mark zu verdienen. Soviel würde er jedem bezahlen, der sich an den Marterpfahl stellte und wenigstens fünf Messer auf sich werfen ließe. Ohne zu überlegen, sprang Emil Langhans auf. Der Chefredakteur der Bad Rittershuder Nachrichten konnte ihm gerade noch rechtzeitig einen Fuß stellen und ihn auf seinen Stuhl drücken: „Du bist wohl von allen Geistern verlassen“, flüsterte Herr Kubatz. „Stell dir vor, was mir deine Eltern erzählen, wenn ich dich nach den Ferien wieder abliefere — ohne dein linkes Ohr!“
„So leicht kann man sich fünfzig Mark nicht oft verdienen“, meinte Emil und rückte seine Hornbrille zurecht.
„Na, wer wagt es?“ fragte der Messerwerfer jetzt schon zum drittenmal . „Wer will gewinnen?“
Aber das Publikum lachte nur und applaudierte schließlich, als sich das Indianermädchen und der Cowboy verbeugten und hinter dem Vorhang verschwanden.
Sie wurden abgelöst von chinesischen Erwachsenen und Kindern, die sich Familie Chang Fing Fu nannte. Sie trugen alle seidene Kimonos und ließen vor allem auf langen, dünnen Holzstäben Teller tanzen, warfen sie in die Luft und fingen sie wieder auf.
Anschließend zeigte eine Gruppe von jungen Arabern noch Saltos am laufenden Band, sie bauten Pyramiden und warfen sich gegenseitig über die Bühne wie Ping- Pong -Bälle.
Das Publikum war begeistert, klatschte laut Beifall und ging anschließend in die Pause.
Professor Stoll bestellte eine Runde Limonade, und als die Sprache während der Unterhaltung auf Alexander kam, meinte er auch, daß es tatsächlich doch besser gewesen sei, ihn im Haus Seestern zu lassen.
Und genau in diesem Augenblick sagte ein Mann in mittlerem Alter: „Hallo, Jungens, ihr kennt mich wohl gar nicht mehr?“
Als erster erinnerte sich Fritz Treutlein und fragte nur: „Molkerei in Hörnum?“
„Genau“, lachte der Mann, der heute einen dunkelblauen Anzug anhatte. „Ich hab’ doch den Jungen auf meinem Lieferwagen transportiert, ihm noch meinen weißen Kittel über die Schultern gelegt, weil er so gefroren hat, und da sehe ich ihn heute abend im Fernsehen. Mich laust der Affe, denke ich.“ Er drehte
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