Der Junge aus dem Meer
vor der Vorstellung noch ausruhen wollte. Aber ich konnte nicht schlafen. Da zog ich mein Jackett wieder an und fuhr im Lift zum Spielkasino ins Dachgeschoß. Dort beginnt der Betrieb so etwa um die Teezeit. Ich hatte bereits am Tag zuvor zugeschaut. Es ist nämlich ganz interessant, die Leute beim Roulette zu beobachten, wie sie gewinnen oder verlieren. Und an diesem Nachmittag wurde es besonders interessant. Es gab drei Tische, aber nur einer war voll besetzt, und um ihn versammelten sich alle Besucher, die selbst nicht spielten und eigentlich, so wie ich, nur zuschauen wollten. Hier saß nämlich ein kleiner runder Mann. Er rauchte Zigaretten wie ein Schlot, und außerdem trank er Whisky. Er hatte das Glas neben seinem rechten Schuh am Boden stehen, weil er es auf dem Roulettetisch ja nicht abstellen durfte. Er war Schwede, ziemlich grob, und wenn er verlor, fluchte er in seiner Muttersprache, daß es eine Art hatte. Aber zum Fluchen hatte er schon bald keine Veranlassung mehr. Er konnte nämlich setzen, was er wollte, jedesmal gewann er, und die Jetons türmten sich allmählich vor ihm auf wie ein mittleres Gebirge. Ein paar Dutzend Augenpaare hingen an ihm und an seinen Gewinnen. Einmal mußte er doch verlieren, hofften die einen oder fürchteten die anderen. Aber er gewann nur immer noch dazu. Bis er plötzlich auf seine Armbanduhr blickte und sich entschuldigte: ,Ich habe leider eine Karte für die Vorstellung heute abend .’ Er nahm sein Whiskyglas vom Boden, schob den Croupiers ihre Trinkgelder zu und stapfte zur Bank, um seine Jetons in Bargeld einzutauschen. ,Er hat über zweihunderttausend Kronen kassiert’, flüsterte irgend jemand.“
Kriminalkommissar Michelsen paffte wieder einmal eine Wolke Zigarrenrauch ins Zimmer.
„Die Sache nimmt Formen an“, bemerkte Professor Stoll und blickte sich um.
„Wo das Geld herkommt, ahnen wir jetzt“, mischte sich Karlchen Kubatz ein. „Aber wie zaubert es das Eulenauge in seine dunkelbraune Ledertasche?“
„Bitte spannen Sie uns nicht auf die Folter“, meinte die Großmutter. „Es ist ja nicht zum Aushalten. Also, wie schaffte es Herr Landauer?“
„Ein paar Zufälligkeiten halfen ihm dabei“, erwiderte der Kommissar und blickte seinem Zigarrenrauch hinterher. „Da wäre zuerst einmal sein Hotelzimmer. Er hat die Nummer 26, wie wir bereits wissen, und der kleine runde Schwede wohnt ihm genau gegenüber auf Nummer 24. Was könnte also passiert sein?“
„Sie werden es uns gleich vorlesen“, meinte der kleine Professor Schreiber. Dabei blickte er wie eine wohlwollende Schildkröte über den Tisch herüber.
„Ich kann es Ihnen auch erzählen“, bemerkte Herr Michelsen. „Das ist nämlich die Stelle in seinem Geständnis, die ich fast schon auswendig kenne.“ Er blickte nachdenklich auf die weiße Asche an seiner Zigarre. „Da gewinnt also direkt vor seinen Augen dieser kleine rundliche Schwede in knappen zwei Stunden ein ganzes Vermögen. Allein mit viel Glück und eigentlich ohne auch nur den kleinen Finger krumm zu machen. Albert Landauer hat nie Glück gehabt, behauptet er. Sein ganzes Leben lang mußte er von der Hand in den Mund leben, und die meisten Leute haben sich über seinen Beruf nur lustig gemacht. Genauso gut hätte er als Zauberer, Kartenleger oder Hellseher auftreten können. Er gehörte irgendwie zum Zirkus. Damit hatte es sich. Und die Bezahlung war schlecht. Dazu kam noch, daß er oft monatelang ohne Arbeit war…“ Der Kriminalkommissar blätterte die nächste Seite des Protokolls um und las jetzt wieder vor: „Als ich aus dem Spielkasino zurückkomme und gerade in mein Zimmer will, geht gegenüber in der Nummer 24 langsam die Tür auf. Sie mußte nicht richtig geschlossen gewesen sein. Jedenfalls öffnete sie sich so weit, daß ich beobachten konnte, wie der rundliche, kleine Schwede in seinem Zimmer ein dickes Bündel Geldscheine in eine Zeitung packte. Dabei hatte er eine Zigarette im Mund und blickte sich um, so als würde er ein Versteck suchen. Dann kam plötzlich ein Windstoß vom Hafen her, ließ die Vorhänge ins Zimmer wehen und schlug die Tür wieder zu. Runde zweihunderttausend Kronen, dachte ich, mit so viel Geld in der Tasche könnte ich hier alles stehen- und liegenlassen wie ein Paar ausgetretene Schuhe, könnte irgendwo ganz neu anfangen. Ich hatte schon immer von einem kleinen Haus am Meer geträumt, auf Sizilien oder in Griechenland, mit viel Sonne. Aber das war auch alles, was mir in diesem Augenblick
Weitere Kostenlose Bücher