Der Junge aus dem Meer
im Dachgeschoß. Für den 1. und 2. August waren Vorstellungen einer Truppe mit dem Namen INTERNATIONALE ARTISTIK angekündigt. Wir hatten uns Karten für die Eröffnungsvorstellung gekauft, weil ich am nächsten Tag mit meiner Frau für vier oder fünf Tage nach Kopenhagen fuhr. Peter wollte während dieser Zeit in Kongsmark bleiben. Er kannte das Hotel und den Ort inzwischen wie seine eigene Hosentasche und hätte sich bei meinen Kundenbesuchen und im Museum sowieso nur gelangweilt. Dort sitze ich nämlich oft stundenlang, zeichne Ornamente oder sonst etwas, und meine Frau hilft mir dabei.“
Der junge Herr Lüders tippte so leise als eben möglich zwischendurch auf seiner Schreibmaschine, und der Chefredakteur der Bad Rittershuder Nachrichten hatte einen Notizblock und einen Kugelschreiber in der Hand.
„Wo befindet sich in diesem Hotel Lakolk der Theatersaal?“ fragte Kommissar Michelsen.
„Im ersten Stock“, antwortete Herr Grämlich aus Iserlohn.
„Sie waren also am 1. August abends in der Vorstellung?“
„Ja“, antwortete Herr Grämlich. „Jetzt können wir einen Sprung machen bis nach der Pause, weil es für unsere Geschichte erst interessant wird, wenn Herr Landauer als ,Psycho , das Wunder der Hypnose’ seinen Auftritt hat. Dabei begegnete Peter dem Eulenauge zum erstenmal . Er kletterte nämlich sofort auf die Bühne, als der untersetzte Mann in seinem schwarzen Smoking mit dem seidenen Umhang das Publikum aufforderte, bei seinen Versuchen mitzuwirken Meine Frau wollte den Jungen zurückhalten, aber er lachte nur und meinte vergnügt: , Laßt es mich mal probieren.’ Kurz darauf wählte ihn dieser Herr Landauer bereits unter allen anderen Kandidaten aus. Er suchte mit seinen großen Eulenaugen immer wieder seinen Blick, und dann stellte er ihn plötzlich in den Mittelpunkt seiner Experimente.“
„Und das ist enorm wichtig“, bemerkte der Kriminalkommissar. Er hatte inzwischen das Protokoll vom Geständnis des Mannes, der sich abends bei seinem Auftritt „Psycho“ nannte, aus der Tasche geholt und las vor: „...ich spürte sofort, daß er ein besonders folgsames Medium sein würde. Und so war es dann auch.“
„Ja, so kam es dann auch“, wiederholte Professor Schreiber nachdenklich. Er hatte seine Beine übereinandergeschlagen und betrachtete durch seine dicken Brillengläser abwechselnd die Zimmerdecke und seine wippende Schuhspitze.
„Peter war wirklich wie Wachs in seinen Händen“, berichtete Herr Grämlich weiter. „Zuerst sollte er nach einem Hundertmarkschein greifen, aber er konnte plötzlich seine Arme nicht mehr bewegen. Dann ließ er eine weiße Billardkugel fallen und schrie vor Schmerzen auf, weil er glaubte, daß es ein Stück glühende Kohle sei.“
„Dasselbe machte er hier mit einer dicken Frau, die ein graues Kostüm anhatte“, stellte Karlchen Kubatz fest. „Sie saß am Anfang direkt neben mir.“
„Aber auch später, als alle Kandidaten tanzten, in einem angeblichen Schneesturm froren oder dann in einer eingebildeten Wüste schwitzten“, mischte sich jetzt Frau Grämlich ein. „Peter klapperte regelrecht mit den Zähnen vor Kälte und riß sich dann als erster das Hemd herunter. Er war wie ausgewechselt, und ich bekam es beinahe mit der Angst zu tun. Hinterher erschien er wieder völlig normal. Allerdings konnte er sich an nichts mehr erinnern. Aber das hatte ,Psycho , das Wunder der Hypnose’, ja prophezeit, und allen anderen Kandidaten ging es ja genauso. Wir waren also nicht beunruhigt.“
„Nein, wir machten uns keine Gedanken“, versicherte auch Herr Grämlich aus Iserlohn und fuhr fort: „Am nächsten Tag, wie gesagt, fuhr ich mit meiner Frau nach Kopenhagen. Peter brachte uns noch zum Bahnhof, winkte uns nach und lachte dabei. Es war ja nicht das erste Mal, daß wir ihn allein ließen.“ Er stopfte den Tabak seiner Pfeife nach. „Und damit muß ich die Geschichte weitergeben...“
„Schön“, sagte Kommissar Michelsen und blickte zu dem schwarzhaarigen Jungen in dem rot-blau karierten Hemd hinüber. „Deine Eltern sind also jetzt für ein paar Tage in Kopenhagen, und du bist im Hotel allein.“ Er nahm einen Schluck Kaffee und zog dann an seiner Zigarre. „Wann bist du diesem Herrn Landauer zum zweitenmal begegnet? Denn irgendwann mußt du ihn ja wiedergesehen haben.“
„Am Nachmittag“, antwortete Peter.
„Also am 2. August nachmittags?“ fragte der junge Herr Lüders, und dann tippte er möglichst leise auf seiner
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