Der Junge, der mit den Piranhas schwamm
Wassermusik zu tanzen. Hinter der Abtrennung liegt Nitascha und kann nicht schlafen. Sie hat das Gefühl, nie mehr schlafen zu können. Sie starrt den Mond an und lauscht der Musik der Berg-und-Tal-Bahn, und ihr ist, als sei sie aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht. Dostojewski schnarcht und dreht sich auf seinem schmalen Bett von einer Seite auf die andere. Er träumt von Sibirien, von heulenden Schneestürmen und von Frost, der die Erde so hart wie Stein werden lässt. Er träumt von einer schlanken Frau, die auf einem gefrorenen See tanzt, während winzige Eiskristalle in der Luft um sie herum glitzern. Und er träumt von seiner Nitascha. In seinen Träumen ist auch sie in einer Welt aus Eis gefangen, einer Welt, die so kalt ist, dass das Mädchen selbst zu Eis gefroren ist. Aber am Horizont gibt es einen Hoffnungsschimmer, den Anflug einer rosigen Dämmerung. Vielleicht wird die Sonne wiederkehren und seine Nitascha wird wieder auftauen, wird wieder anfangen zu leben.
Aber, liebe Leser, verlassen wir einen Moment lang diese drei in ihrem Wohnwagen. Wir wollen uns einen eigenen Traum erschaffen. Steigen wir auf durch das Dach des Wohnwagens und blicken wir von oben auf diesen Ort voller Schausteller und Buden und Fahrgeschäfte, voller seltsamer Sensationen und magischer Momente, voller Feuer und Würstchen und gebackener Kartoffeln, Skorpione und Fische und Zelte. Steigen wir auf ins Mondlicht, bis die Feuer so klein werden wie Glühwürmchen und die wirbelnde Berg-und-Tal-Bahn nur noch ein Komet in der Ferne ist. Steigen wir noch weiter auf, bis die Stadt beim Jahrmarkt schrumpft und wir die glitzernde Weite des dunklen Meeres sehen, die riesigen, zerklüfteten Kuppen und Gipfel der Berge. Steigen wir hinauf zum Mond und zu den Sternen und zu der herrlichen, entsetzlichen Unendlichkeit des Universums. Schauen wir hinunter, als ob wir selbst der Mond wären und sehen könnten, was in dem anderen Teil unserer Geschichte passiert.
Schaut! Da ist die Straße zwischen den Bergen und dem Meer, auf der Stan, Dostojewski und Nitascha gefahren sind. Wir folgen ihr in die andere Richtung, wieder zurück zur Fischzuchtgasse. Schaut, da ist sie, so weit weg, in der Nähe der verlassenen Werft. Fliegen wir durch die Nacht zu diesem Ort. Wie soll das gehen?, werdet ihr fragen. Aber das ist doch ganz leicht! Man braucht nur ein paar Worte zu ein paar Sätzen aneinanderzufügen und ein bisschen Fantasie beizumischen. Mit Worten und mit unserer Fantasie können wir überall hingehen. Wir könnten diese Geschichte verlassen, uns eine andere Geschichte in einem anderen Teil der Welt suchen und anfangen, sie zu erzählen.
Doch nein. Vielleicht später. Es ist nicht gut, wenn unsere Geschichte in Einzelteile zerfällt. Also suchen wir die Teile und fangen an, sie zusammenzufügen.
Aha! Schaut mal, da unten, auf der Straße, die von der Fischzuchtgasse wegführt. Seht ihr sie? Zwei abgerissene Gestalten taumeln durchs Mondlicht. Gehen wir ein Stück näher. Es sind eine Frau und ein Mann. Überrascht es uns, wenn wir in ihnen Annie und Ernie erkennen, die vertriebenen Verwandten von Stanley Potts? Sie scheinen nur ein paar Habseligkeiten mitgenommen zu haben, die sie in einem Bündel auf ihrem Rücken verstaut haben.
Gehen wir noch ein Stückchen näher ran. Was ist denn das in ihren Augen? Traurigkeit, ja, aber auch Entschlossenheit – es ist gewiss die Entschlossenheit, ihren verloren Jungen zu finden. Vielleicht haben sie gehört, dass ein solcher Junge an einer Entenbude auf einem Jahrmarkt in einer nicht allzu weit entfernten Stadt arbeitet. Vielleicht haben sie … Aber woher wollen wir wissen, was sie wissen und was sie denken? Können wir mit Worten und mit unserer Fantasie in ihre Gedanken eindringen? Vielleicht. Aber das ist gar nicht nötig, denn hört mal: Sie sprechen.
„Wir werden unseren Stan finden“, sagt Annie zu Ernie.
„Ja, ganz bestimmt!“, sagt Ernie zu seiner Frau.
Und die beiden gehen weiter durch die Nacht, die bereits der Morgendämmerung entgegenschreitet.
Da haben wir es also: Die beiden gehen in die richtige Richtung. Vielleicht wird es nicht mehr lange dauern, bis sie dort sind, wo sie hingehören: im Herzen der Geschichte.
Geh weiter, Annie. Geh weiter, Ernie. Die Geschichte wartet auf euch. Euer Junge wartet auf euch!
Ha! Seht doch, wie sie die Daumen heben, als die ersten Autos an ihnen vorbeifahren. Sie wollen trampen, liebe Leser. Hoffen wir, dass ein freundlicher Autofahrer
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