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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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auf irgendeinem fernen Felsen starb. An Lord Lucan, der auf der Klippe stand und überlegte, ob er springen sollte oder nicht. An eine lange Reihe von Göttern, von denen jeder durch seinen Vorgänger erschaffen worden war, die sich in der Unendlichkeit verlor, der großen Leere. An den Jungen auf dem Metalltisch, mit den blauen Flecken und den schmutzigen Fingernägeln, den Jungen, der nicht Salim war.
    Wo bist du, Salim?, dachte ich. Und plötzlich war mir, als würde ich zu Salim. Ich spürte seine Anwesenheit und sein Lachen in mir, fast wie einen Geist, während ich dort stand und Ausschau hielt. Ich versuchte mir vorzustellen, was er getan hätte, ganz allein unter all den Fremden in der Gondel. Hätte er sich mit jemandem unterhalten? Hätte er schweigend in einer Ecke gestanden? Ich teilte mich in zwei Hälften, und dieTedhälfte fragte die Salimhälfte, was geschehen war. Aber Salims Geist verschwand, noch ehe wir das letzte Viertel der Umdrehung erreichten – so wie die Dodos, der Lord und die Besatzung der Mary Celeste verschwunden waren.
    Aus einem Lautsprecher in einer Ecke der Gondel kam die Durchsage mit der Aufforderung, dass die ganze Gruppe sich gemeinsam zur Wendeltreppe nach Nordosten drehen sollte, um für das Erinnerungsfoto zu posieren.
    Â»Sollen wir?«, fragte Dad.
    Â»Au ja!«, sagte Kat.
    Kat und Dad stellten sich mit den anderen Fahrgästen auf die eine Seite der Gondel, während ich am Rand der Gruppe stehen blieb, halb posierte und den anderen halb beim Posieren zusah.
    Die Kamera blitzte, die Gondel setzte zur Landung an.
    Ein junger Mann mit einem Londons-Riesenrad-T-Shirt, einer der Mitarbeiter, nahm an der Tür Aufstellung und bedeutete uns auszusteigen. Die anderen strömten zuerst hinaus. Dad und ich waren die Nächsten. Aber Kat fiel zurück, ihre Augen schossen hin und her. Sie duckte sich neben den Sitzen, aber der Mann betrat die Gondel und scheuchte sie hinaus. Dann hob er ein Stück Abfall auf, den die Frau mit dem Baby im Arm hatte fallen lassen, und stieg selbst wieder aus.
    Â»Was sollte das denn?«, fragte Dad.
    Fast hätte ich gesagt: »Theorie Nummer eins ist widerlegt«, aber dann fiel mir wieder ein, wie Mum auf Theorie Nummer acht reagiert hatte.
    Â»Ich dachte, ich hätte was verloren«, sagte Kat.
    Â»Leg mal einen Zahn zu«, sagte Dad. (»Leg mal einen Zahn zu« ist Dads Lieblingsausdruck für »Beeil dich!«, obwohl die Anzahl der Zähne bei der Geschwindigkeit der Fortbewegung ja eigentlich keine Rolle spielt.)
    Kat stieß mich an. Uns beiden war im selben Moment dasselbe aufgefallen. Man konnte nicht in der Gondel bleiben, um eine weitere Runde zu drehen. Aussteigen, einsteigen, aussteigen, einsteigen … Der Wechsel funktionierte reibungslos.
    Der Rückweg führte an der Bude mit den Erinnerungsfotos vorbei, nahe der Stelle, an der wir uns mit Salim verabredet hatten. Dort hingen mehrere fernsehähnliche Bildschirme mit verschiedenen Aufnahmen jeder Fahrgastgruppe. Unsere hatte die Nummer 2903. Zu sehen waren Dad, Kat, die Mutter mit den beiden Söhnen und dem Baby, allesamt umringt von den Teenagertouristen, die grinsten und winkten. Von mir guckten ganz rechts nur die Schulter und ein Ohr hervor, hinter all den anderen.
    Â»Ted ist abgeschnitten und ich sehe zum Fürchten aus«, sagte Dad. »Aber du machst eine gute Figur, Kat.«
    Kat hatte die Arme verschränkt und ihre Haare waren zu etwas zusammengebunden, was die Mädchen Dutt nennen. Ihr hageres, knochiges Gesicht stach irgendwie hervor. Mit ihrem gereckten Kinn und den dunklen Augenbrauen wirkte sie klarer umrissen, als hätte die Kamera sie schärfer abgebildet als alle die anderen um sie herum, oder lebendiger. Sie fiel einem einfach auf, ob man sie nun anschaute oder nicht.
    Vielleicht ist es das, was »hübsch« bedeutet, dachte ich.
    Â»O Gott«, sagte sie. »Meine Haare sehen scheußlich aus!«
    Dad kaufte das Foto trotzdem.
    Dann verließen wir das Riesenrad und liefen am Flussufer entlang. Die Themse war glatt und braun, die Ausflugsboote schipperten fast ohne Passagiere durch die Gegend. Flugzeuge waren zu hören, aber nicht zu sehen. Die Wolkendecke wurde immer dichter. Ich hielt weiter Ausschau nach Salim. Jedes Mal, wenn wir an einem dunkelhaarigen Jungen vorbeikamen, der in etwa seine Statur hatte, starrte ich ihn an. Aber wenn wir dann dichter

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