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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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noch einmal umsehen. In eine Gondel steigen. Gucken, wie das ist. Die Dinge so sehen wie Salim …«
    Wie Salim sie gesehen haben musste. Wieder ein Satz, den jeder für sich im Stillen vollendete, anstatt ihn laut auszusprechen. Kats Lippen zitterten. Ich habe Mum mal irgendwann sagen hören, Kat hätte Dad um ihren kleinen Finger gewickelt. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, hatte Kats kleinen Finger betrachtet und mir vorgestellt, wie Dad sich um ihnherumwickelte, als Miniaturausgabe, langgezogen und plattgehauen wie ein seltsam aussehender, lebendiger Ring.
    Dad zog sie näher heran und drückte sie an sich. »Es ist wirklich schlimm, Katze, ich weiß«, sagte er. Katze, so hat er sie früher immer genannt, als sie noch klein war. Er schaute in den Himmel. »Also zum Riesenrad. Viele Wolken heute, was gut und gleichzeitig schlecht ist.«
    Â»Wieso schlecht?«, fragte Kat.
    Â»Weil wir dann nicht so weit sehen können.«
    Â»Wieso gut?«, fragte ich.
    Â»Weil dann nicht so großer Andrang herrscht, Ted. Was bedeutet, dass wir nicht so lange anstehen müssen. Also los, gehen wir.«

17
    Der Blitz schlägt ein
    Als wir ankamen, war alles so, wie Dad gesagt hatte. Die Menschenmenge rings um das Riesenrad war kleiner als am Tag zuvor. Eine großflächige Cumulonimbuswolke war herangezogen. Das Tiefdruckgebiet näherte sich. 990 Millibar, schätzte ich, Tendenz fallend. Die Sicht war nur begrenzt.
    Die Karten zu holen dauerte nicht lang. Schon nach kurzer Zeit standen wir in der Schlange vor der Rampe, die zum Riesenrad hinaufführte. Wir erreichten die Stelle, an der wir uns einen Tag zuvor von Salim getrennt hatten. Ein Sicherheitsmann kontrollierte uns mit einem Handgerät, das aussah wie ein überdimensionaler Seifenblasenpuster. Dann liefen wir die Rampe hinauf. Sie verlief im Zickzack, wie ein Z in Spiegelschrift.
    Wir stiegen in die schaukelnde Gondel, zusammen mit einer Gruppe von acht ausländischen Teenagern und einer müde wirkenden Mutter mit einem zusammengeklappten Buggy, ihrem Baby und ihren zwei älteren Söhnen. Langsam hob sich die Gondel. Ich zählte durch, wie viele wir waren, während wiruns entgegen dem Uhrzeigersinn ein Stück nach oben bewegten: vierzehn. (Ich beschloss das Baby nicht mitzuzählen, weil es nicht herumlaufen und die Aussicht genießen konnte, und weil es noch zu klein war, um sich an das Ereignis überhaupt zu erinnern.) Am Tag zuvor hatte ich in Salims Gondel einundzwanzig Personen gezählt.
    Ich schlenderte hinüber zu der Seite der Gondel, wo niemand stand, und beobachtete die anderen Fahrgäste. Sie schauten hinaus, drehten sich hin und her, unterhielten sich gedämpft und knipsten Bilder. Kat kam herüber und stellte sich neben mich.
    Â»Ich hab’s gemacht«, flüsterte sie.
    Â»Was gemacht?«
    Â»Pscht! Ich hab den Film in der Drogerie abgegeben. Wenn wir auf dem Rückweg vorbeikommen, wird er schon entwickelt sein.«
    Ich dachte an die achtzehn Gartenbilder und die achtzehn anderen, unsere letzte Verbindung zu Salim. »Das ist gut, Kat.«
    Dad gesellte sich dazu. »Was für eine Aussicht«, sagte er. »Schaut euch nur an, wie winzig die Autos sind!«
    Â»Sie sehen aus wie Abakusperlen, die man hin- und herschiebt«, sagte Kat. Ich schaute nach unten, konnte aber nicht feststellen, jemals solche Abakusperlen gesehen zu haben.
    Dad zeigte nach Süden. »Wenn ihr ein Fernglas hättet, könntet ihr unsere Straße erkennen, vielleicht sogar unser Haus.«  
    Â»Typisch«, sagte Kat. »Du fährst hier rauf, bloß um dir anzusehen, was dir sowieso jeden Tag ins Auge springt.«
    Dad lachte. »Ich habe unser Zuhause noch nie aus dieser Perspektive gesehen. Und da ist die Kaserne … Sieht fast schön aus, wenn man sie sich mal sauber vorstellt … Und da ist der Guy’s Tower. Und da das Einkaufszentrum. Man erkennt das rote Dach …«
    Â»Komm, schau dir das Parlamentsgebäude an, Dad.«
    Kat zog ihn zur anderen Seite der Gondel und ich nahm Dads Platz auf der Südostseite ein und schaute hinaus, ohne wirklich wahrzunehmen, was ich sah. Wir erreichten den höchsten Punkt. Die Sicht wurde immer schlechter. Die Mündung der Themse verschwand in den Wolken. Ich dachte an die Mary Celeste, ein Geisterschiff ohne Besatzung, das über den Horizont segelte. An den letzten Dodo, der

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