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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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sie immer benutzt hätte, als Salim noch klein gewesen war.
    Â»Er war so ein kleiner Teufel«, sagte sie. »Hat es mir dauernd geklaut. Er liebte die Seifenblasen. Pustete sie in die Luft. Und kicherte, wenn sie zerplatzten.«
    Dann begann sie zu weinen und Mum schickte uns nach oben.
    Dort holte Kat den Umschlag mit den Fotos heraus und sah die Bilder in Sekundenschnelle durch. Ich wollte sie unbedingt auch anschauen, aber sie ließ mich nicht. Innerhalb von achtzehn Sekunden lagen achtzehn Bilder von unserem Garten, der Wäsche und dem Schuppen kreuz und quer auf meiner Tagesdecke verstreut. Als sie sich die ersten achtzehn Bilder vornahm, die von dem Morgen, an dem Salim verschwunden war, ließ sie sich mehr Zeit. Ich versuchte ihr über die Schulter zu gucken, aber sie wich mir blitzschnell aus. Kat ging die Bilder zweimal durch und ließ sie dann aufs Bett fallen, als hätte sie plötzlich das Interesse verloren. Ich griff danach und schaute sie mir an.
    Â»Nur ein paar blöde Touristenfotos«, sagte sie. »Wie Touristenfotos eben sind.«
    Zu sehen war das Parlamentsgebäude, die Lambeth-Brücke und das Riesenrad, aus verschiedenen Perspektiven. Das beste Foto war das, was Salim von Kat und mir auf der Jubilee-Fußgängerbrücke gemacht hatte. Kats und mein Gesicht waren dicht nebeneinander und hinter uns war die Hälfte des Riesenrads zu sehen, ein Stück von der Brücke, die Themse und der Himmel. Kat lächelte. Ich hatte den Kopf schief gelegt und meine Augen guckten nach oben, als würde ich nachdenken. Kat war größer als ich. Mein Kopf ging ihr nur bis zum Kinn.
    Das letzte Foto war das, was ich gemacht hatte. Es war nichts geworden. Statt des Riesenrads hatte ich ein paar Beineund die kopflosen Körper der Leute erwischt, die mit uns in der Schlange gestanden hatten. Ich stellte die Bilder auf meinem Schreibtisch auf, neben dem Erinnerungsfoto der Gondel, von der wir annahmen, dass Salim in ihr mitgefahren war, und neben der Liste mit den Theorien.
    Wir saßen schweigend da.
    Kat atmete lang und heftig aus. »Ich weiß nicht mal, was ich erwartet hab«, sagte sie und schob dabei die Bilder hin und her. »Hätten wir Salims Kamera doch bloß gleich Tante Glo gegeben, nachdem wir sie gefunden hatten. Jetzt müssen wir erklären, warum wir sie ihr nicht gegeben haben. Und ich wette, dass sie gleich wieder anfängt zu weinen, wenn sie Salims letzte Fotos sieht.« Sie nahm das Bild in die Hand, auf dem wir zusammen auf der Fußgängerbrücke standen, und warf es wieder hin. »Ein Hinweis? Von wegen!«
    Ich griff nach dem Foto. »Lass uns die Fotos und die Kamera doch hier bei mir im Zimmer aufbewahren, bis Salim zurückkommt«, schlug ich vor.
    Â»Falls er zurückkommt«, sagte Kat und biss sich auf die Lippen. Sie schüttelte den Kopf und fegte die Fotos zu einem unordentlichen Haufen zusammen. »Aber du hast Recht. Es hat keinen Sinn, Tante Glo aufzuregen. Du musst nicht lügen, Ted. Sag einfach gar nichts.« Sie griff nach der Liste mit den Theorien. »Und was das hier angeht«, sie knüllte sie zusammen und warf sie in den Papierkorb, »damit sind wir fertig, Ted.«
    Ich sah zu, wie das Papier zaghaft knisterte, als wollte es versuchen, sich von alleine wieder zu entfalten. Als die Ecken wiederauftauchten, nahm ich es aus dem Korb und strich es auf dem Schreibtisch wieder glatt.
    Â»Vergiss es, Ted«, sagte Kat.
    Ich griff nach einem Stift. »Wir können es ja mit dem Ausschlussverfahren probieren«, sagte ich. Der berühmteste erfundene Detektiv der Welt, Sherlock Holmes, hat gesagt, wenn man alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein – wie unwahrscheinlich sie auch klingen mag. Ich war total neugierig, ob wir alle anderen Theorien streichen konnten und dann nur noch meine Lieblingstheorie übrig blieb, nämlich die, dass Salim sich spontan selbst entzündet hatte. Das wäre für Tante Gloria oder für Salim zwar kein so gutes Ergebnis gewesen, hätte aber bedeutet, dass es sich bei der spontanen Selbstentzündung um ein real existierendes Phänomen handelte, und meine Entdeckung hätte einen Fortschritt der Wissenschaft bedeutet.
    Â»Theorien Nummer eins und acht können weg«, begann ich. »Heute haben wir bewiesen, dass Salim nach der Landung nicht in der Gondel hätte bleiben

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