Der Junge, der sich in Luft auflöste
können. Und er hätte sich beim Aussteigen auch nicht unter der Kleidung von irgendjemandem verstecken können.« Ich strich sie durch.
»Hör auf, Ted.«
»Bleiben sechs weitere übrig.«
»Wo du gerade schon dabei bist, dann streich gleich mal die mit der spontanen Explosion oder wie das heiÃt.«
»Theorie Nummer fünf?«
»Ja. Und die mit der Zeitschleife auch.«
»Nummer sieben?« Mein Stift schwebte über der Liste. »Aber wenn all die anderen ausscheiden â¦Â«
»Oh, werd endlich erwachsen, Ted.«
Ich wünschte mir, Kat hätte sich an Ort und Stelle selbst entzündet. Aber sie tat es nicht. Ihre Augenbrauen stieÃen in der Mitte fast aufeinander, ihre Mundwinkel hingen tief nach unten, und dann rollte ihr eine Träne aus dem linken Auge und an der Nase herunter. Mir fiel etwas ein, was ich vorher nicht bedacht hatte. Ganz langsam zog ich einen wackeligen Strich durch die Theorien Nummer fünf und Nummer sieben, obwohl mir dabei ein komisches Gefühl die Speiseröhre raufkroch.
»Fertig«, sagte ich.
Kat nahm die Liste wieder in die Hand, als hätte sie erneut ihr Interesse geweckt. Sie wischte sich die Träne ab. »Bleiben vier Theorien übrig«, sagte sie. »Nummer zwei, drei, vier und sechs.«
»Und neun«, fiel mir plötzlich ein.
»Neun?«
»Die neunte Theorie ist die, die ich dir gestern Abend erzählen wollte«, erinnerte ich sie. »Als das Telefon klingelte. Du hast sie gar nicht aufgeschrieben.«
Sie nahm mir den Stift ab. »Du hast mir gar nicht mehr erzählt, wie sie lautet. Raus damit, Ted. Und wehe, sie ist nicht gut!«
»Ist sie aber.« Ich fing an ihr zu diktieren. »Die neunte Theorie ist, dass Salim überhaupt gar nicht erst ins Riesenrad eingestiegen ist.«
Kat war mitten im Schreiben, hielt dann plötzlich inne und sagte, ich wäre albern, und ich sagte, wäre ich nicht, und sie meinte, wir hätte doch wohl gesehen, wie er eingestiegen sei, und ich sagte, wir hätten etwas gesehen, was wir für Salim hielten, aber es war nur ein Schatten gewesen und hätte jeder sein können.
»Er hat sich umgedreht und gewunken«, sagte Kat.
»Das hätten viele tun können«, sagte ich. »Nicht nur Salim.«
»Aber was soll dann mit Salim passiert sein, nachdem wir uns verabschiedet hatten und bevor er oben auf der Rampe ankam?«
Das hatte ich nicht bedacht. »Er ist vielleicht stehen geblieben, um sich seine Turnschuhe zuzubinden, und hat sich entschieden, doch nicht einzusteigen, und kam die Rampe wieder runter, als wir schon weg waren. Und dann hat er uns vielleicht gesucht, aber wir waren schon in der Menge verschwunden. Und dann hat er sich vielleicht verirrt oder ist abgehauen oder wurde entführt.«
Kat schloss die Augen. »Okay, Ted. Ich spiele die Situation in Gedanken noch mal durch.«
Ich schloss ebenfalls die Augen. Aber alles, was ich sah, war das seitenverkehrte Z und eine Reihe anstehender Jungen, die alle wie Salim aussahen und lächelten, winkten, sich verabschiedeten und auf den Rand eines Abgrunds zusteuerten.
»Ted«, sagte Kat. Ich schlug die Augen auf. »Ich muss zugeben, dass es eine schlaue Theorie ist.«
Ein angenehmes Kribbeln stieg mir die Speiseröhre hinauf bis in den Kopf. Ich lächelte.
»Aber sie ist falsch, Ted.«
Ich hörte auf zu lächeln. »Falsch.«
»Du musst es nicht verstehen. Dieser Junge, der oben von der Rampe herunter gewunken hat. Wie er da stand und noch mal zurückgeschaut hat. Wie er sich dann umdrehte und weiterging. Das war Salim, ich weià es einfach.«
»Du weiÃt es einfach?«
»Das hat was mit Körpersprache zu tun.«
Das gute Gefühl, das ich gehabt hatte, verwandelte sich in ein schlechtes. »Körpersprache« ist eine eigene Art der Kommunikation, wie wenn man Englisch, Französisch oder Chinesisch spricht, aber ohne Worte, nur mit Gesten. Menschen, Schimpansen, Erdmännchen und Stachelrochen können Körpersprache instinktiv verstehen, ohne sie erst erlernen zu müssen. Aber nach Ansicht der Ãrzte, die bei mir die Diagnose gestellt haben, sind Leute mit meinem Syndrom dazu nicht in der Lage. Wir müssen Körpersprache lernen wie eine Fremdsprache, und das braucht Zeit.
»Du meinst, du hast an dem Jungen, der gewinkt hat, irgendwas gesehen, was mir entgangen ist?«
»Ja,
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