Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
blaues Auto, das haben wir vollgepackt und dann sind wir einfach gefahren.«
»Während Mama im Krankenhaus geblieben ist.«
»Ja, so war es. Sie konnte nicht anders.«
»Warum?«
»Es gab nicht genug Medizin für alle. Mama versuchte, neue Medikamente zu entwickeln, die leichter herzustellen waren und besser wirkten. Die Medizin, die wir hatten, war so teuer und schwierig zu machen, dass man nicht schnell genug mit der Produktion hinterherkam. Außerdem leitete Mama eine Abteilung des Krankenhauses, sie konnte nicht einfach gehen.Niemand hätte ihre Arbeit übernehmen können«, sagt Papa und will aufstehen.
»Aber wie war die Reise? Kannst du nicht noch mehr erzählen?«, fragt Nanna.
Papa seufzt und lehnt sich zurück an den Steinhaufen.
»Alles geriet ins Stocken. Man blieb im Haus oder war auf der Suche nach Essen. Die Leute starben. Es wurden immer mehr. Das war schrecklich. Wir hatten furchtbare Angst.«
»Ich glaube, daran kann ich mich erinnern«, sagt Nanna. »Durfte ich deshalb nicht mehr nach draußen?«
»Ja.«
»Unsere Nachbarn sind gestorben, oder?«
»Ja.«
»Ich weiß noch, dass ich eine Freundin hatte, die im selben Haus wohnte wie wir. Aber was haben wir den ganzen Tag gemacht?«
»Nicht sehr viel. Ich war zu Hause und habe mich um euch gekümmert, während Mama Tag und Nacht gearbeitet hat. Sie war so erschöpft. Aber was sie getan hat, war ganz fantastisch. Sie hat sehr vielen Menschen geholfen. Deshalb sind wir ganz gut zurechtgekommen. Es gab viele, die uns unterstützt haben. Aber nach und nach sind fast alle gestorben und es wurde immer riskanter, vor die Tür zu gehen. Eines Abends meldeten sie im Radio, dass für den nächsten Tag eine Ausgangssperre angekündigt worden war.«
»Was ist das?«, fragt Fride.
»Das bedeutet, dass niemand mehr sein Haus verlassen darf. In dieser Nacht sind wir geflohen.«
»Und die Vorräte? Woher haben wir die?«
»Wir hatten das Lager schon aufgefüllt. Das war MamasEntscheidung. Kurz nachdem die ersten Menschen erkrankt waren, beschloss sie, dass wir alles einkaufen mussten, was nötig war, um eine lange Zeit auszuhalten. Wir verbrauchten unser gesamtes Geld. Ich wollte nicht und es war mir peinlich, die vielen Konserven einzukaufen. Aber Mama war sehr entschlossen. Sie wusste wohl mehr als wir.«
»Was ist in der Nacht passiert, in der wir gefahren sind?«, fragt Fride. »Ich will es noch mal hören.«
»Es war so ein schöner Abend. Warm und hell. Wir sind mitten in der Nacht aufgebrochen. Ich wusste nicht, ob wir über die Brücke kommen würden. Sie fingen schon an, Straßensperren zu errichten und es waren Soldaten in die Stadt gekommen, um aufzupassen. Als wir die Küste erreichten, hatte ich Angst, dass jemand herausfinden könnte, dass wir auf die Insel wollten, deshalb versteckte ich das Auto im Wald und wir schlichen uns runter in den kleinen Hafen. Ihr musstet ganz leise sein. Nanna war sehr gut darin, sich um dich zu kümmern, Fride. So kamen wir hier an«, sagt Papa und macht eine Pause.
Dann steht er unvermittelt auf und sagt: »Wir können nicht den ganzen Tag hier herumsitzen und erzählen. Wir müssen arbeiten.«
»Oh, nein«, stöhnen die Mädchen.
»Na los. Wir müssen noch ein paar Mal rauf und runter.«
●
Der Weg wird schwerer und schwerer und die Bake wächst nur langsam. Später am Nachmittag setzt Papa sich einfach auf den Felsen, das Holz noch auf dem Rücken, und schließt die Augen. Nanna und Fride sind so erschöpft, dass sie sich hinlegen unddie Wolken betrachten. Nach einer ganzen Weile windet Papa sich aus seinem Tragegestell, packt Essen und Wasser aus und legt sich auch auf den Boden.
»Ich muss mich kurz ausruhen«, sagt er und legt den Kopf auf einen Holzscheit. »Spielt ruhig ein bisschen. Oder schaut, ob ihr getrocknete Wacholderbeeren findet. Damit kann man gut würzen.«
Nanna und Fride bleiben sitzen. Es kommt ihnen nicht sehr verlockend vor, Wacholderbeeren zu suchen. Das klingt nicht besonders lustig. Sie schauen zur Stadt, zu der grauen Masse, die sich vom Rest der Landschaft abhebt.
»Wie war es, in der Stadt zu wohnen?«, fragt Fride.
»Schön«, sagt Nanna. »Der Kindergarten hätte dir gefallen. Er war gleich neben unserer Wohnung. Ich weiß noch, dass dort viele Kinder waren und dass es draußen einen Sandkasten gab. Wir haben viel gemalt. Ich erinnere mich auch noch, dass ich oft bei meiner Freundin zu Hause war. Meistens haben wir mit Puppen gespielt, glaube ich. Und dann lagst
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