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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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Papa, ohne sich umzudrehen.
    »Ich kann nicht mehr.«
    »Es ist nicht mehr weit, Fride. Nur noch ein kleines Stück.«
    Die Beine sind schwer und ihre Rücken tun weh.
    »Ich habe Durst«, sagt Fride.
    »Wenn wir oben sind, kannst du etwas trinken«, sagt Papa streng.
    »Ja, aber ich sterbe gleich«, stöhnt Fride.
    Nanna und Papa sehen sich feixend an.
    »Da bleibt uns wohl nur zu hoffen, dass du doch überlebst«, sagt Papa.
    »Das kann man nicht wissen. Und das habt ihr dann davon«, sagt Fride verbissen.
    Langsam tut ihnen alles weh. Die Knie schmerzen und die Füße sind wund, das Holz schneidet immer tiefer in den Rücken ein und jeder Atmenzug brennt.
    Keiner sagt mehr etwas. Nanna heftet ihren Blick fest auf Papas Schuhe, die sich unablässig bergauf bewegen. Plötzlich bleibt er stehen und lässt das Holz auf den Boden fallen.
    Der höchste Punkt der Insel ist flach und kahl, nur ein paar Büsche klemmen zwischen den Felsspalten. In der Mitte liegt Geröll. Die Mädchen legen ihr Holz ab und klettern auf den Steinhaufen.
    »Ist das nicht schön? Von hier aus hat man die ganze Küste im Blick. Schau mal, Fride«, sagt Papa und reicht ihr die Wasserflasche, die er am Gürtel hängen hat. Auch Nanna trinkt etwas, bevor sie ihrem Vater die Flasche zurückgibt.
    Weit draußen, direkt am Meer, steht der Leuchtturm, umgeben von ein paar flachen Inseln mit vereinzelten Häusern. Die Wellen haben kleine Schaumkronen. An manchen Stellen ist das blaue Meer fast grün. Papa setzt sich neben den Steinhaufen.
    »Was ist das da drüben?«, fragt Fride.
    Nanna schaut, wohin Fride zeigt. Da, wo das Land aufhört und man kaum mehr einen Unterschied zwischen Himmel, Land und Meer ausmachen kann, verändert sich der dunkle Bergrücken und wird grau und eckig.
    »Das ist die Stadt«, sagt Papa. »Oder das, was davon noch übrig ist. Früher konnte man von hier aus die Lichter erkennen, die Schiffe, die durch den Fjord fuhren und Flugzeuge, die starteten und landeten. Jetzt ist das dort alles, was gebliebenist. Aber von der Stadt aus kann man unsere Bake sehen. Das ist das Wichtigste.«
    »Wie ist es jetzt dort?«, fragt Fride.
    »Ich weiß es nicht. Als wir weggegangen sind, lebten dort immer noch Menschen, aber viele, viele waren schon gestorben.«
    »Was ist denn eigentlich passiert? Erzähl es noch mal«, sagt Nanna.
    »Das habt ihr doch alles schon so oft gehört, Mädchen. Jetzt müssen wir zusehen, dass die Bake fertig wird«, sagt Papa.
    Nanna schaut ihn bittend an. Auch wenn sie es schon viele Male gehört hat, ist doch jedes Mal eine Kleinigkeit anders oder er erinnert sich an etwas, das ihm vorher noch nicht eingefallen ist.
    »Na gut. Lasst mich nur erst einen Schluck trinken«, sagt Papa. »Ich weiß nicht so recht, was ihr hören wollt. Alles war ganz gewöhnlich. Du warst in der ersten Klasse, Nanna, und Fride war erst ein paar Monate alt. Mama arbeitete im Krankenhaus und ich schrieb an meiner Arbeit. Wir waren gerade in eine neue, größere Wohnung gezogen, als plötzlich alle Pflanzen anfingen zu welken, obwohl noch Sommer war. Die Blätter verfärbten sich gelb und rot und fielen ab. Niemandem war klar, was da gerade passierte. Jedenfalls nicht sofort. Alles hörte auf zu wachsen. Getreide und Kartoffeln verfaulten. Dann wurden die Tiere krank und starben und schließlich erwischte es auch die Menschen.«
    »Wieso leben wir dann noch?«
    »Ihr beide habt Medizin bekommen, als ihr noch klein wart, damit bestand für euch die Chance, immun zu werden, meinte Mama. Seitdem haben wir uns nur hier auf der Insel aufgehalten.«
    »Und was ist mit Mama?«, fragt Fride.
    »Es war alles so chaotisch. Viele Leute verließen die Stadt und die Schulen wurden geschlossen. In den Geschäften gab es immer weniger Waren und es wurde gefährlich vor die Tür zu gehen. Die Menschen hatten Angst. Und wenn Menschen Angst haben, machen sie oft dumme Sachen.«
    »Hat so ein dummer Mensch Mama etwas getan?«, fragt Fride.
    »Nein, das glaube ich nicht. Sie ist im Krankenhaus geblieben, um zu helfen. Wir hielten es für das Wichtigste, euch in Sicherheit zu bringen und waren uns einig, dass sie tun musste, was sie konnte, um anderen zu helfen«, sagt Papa und macht eine Pause. »Sie sollte später nachkommen.«
    Er schaut nach unten und trinkt einen Schluck aus der Wasserflasche.
    »Wie sind wir hergekommen?«, fragt Fride.
    »Wir sind mit dem Auto gefahren«, sagt Papa und lächelt bei der Erinnerung daran. »Wir hatten ein kleines,

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