Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
Handrücken wegwischt.
»Stirbt Papa?«
»Nein, Fride. Das glaube ich nicht«, flüstert Nanna und setzt sich neben sie auf das Sofa vor dem Fenster.
»Aber alle anderen sind doch gestorben?«
»Ja, aber wir haben Medizin. Das hatten die anderen nicht.«
»Ach so«, sagt Fride und kuschelt sich an sie.
Ein dunkler Schmerz erfüllt Nanna. Wenn Papa stirbt, ist außer ihnen niemand mehr da. Und das ist so traurig und so gewaltig, dass sie den Gedanken nicht zulassen kann.
Nanna streichelt Fride den Rücken, bis sie ganz schwer wird und einschläft. Papa atmet gleichmäßig und schnarcht leise auf dem Sofa vor dem Kamin. Der Himmel ist klar und Sterne funkeln über den Schären. Aber Nanna kommt es so vor, als würden sich dunkle Schatten am Waldrand bewegen und siestarrt in die Nacht, bereit, Papa zu wecken, falls jemand kommen sollte.
Nanna weint leise. Sie lässt den Kopf hängen und spürt, dass die Tränen helfen. Ein weiches, ruhiges Gefühl breitet sich in ihrem Körper aus. Sie steht auf und geht hoch in den ersten Stock. Über der Treppe hängen Fotos aus der Zeit, in der das Haus gebaut wurde. Auf einem der Bilder ragt das Periskop aus dem flachen Betonfundament und rundherum wächst das neue Haus. Nanna sieht sich in den leeren Zimmern um. Das Bett im großen Schlafzimmer ist gemacht und im Kinderzimmer liegen Handtücher und Badesachen bereit.
Sie geht zurück nach unten und setzt sich wieder ans Fenster. Papa und Fride schlafen. Sie versucht, die Umrisse der Stadt in der Dunkelheit zu erkennen, aber der Bergrücken scheint ins Meer überzugehen.
Und das ist der Moment, in dem sie es sieht. Ein kurzes, grünes Blinken aus der Richtung, in der die Stadt liegen muss. Es ist so schnell wieder verschwunden, dass sie nicht sicher ist, ob sie es wirklich gesehen hat.
Nanna steht auf und stellt sich ganz dicht ans Fenster. Die Schatten am Waldrand rühren sich nicht und die Wiese vor dem Haus ist leer.
Da draußen ist nichts, sagt sie sich selbst. Es gibt niemanden außer uns.
Sie nimmt das Fernglas, das auf der Fensterbank steht und reibt die Linsen mit ihrem Pulli ab. Durch das Fernglas erkennt sie die dunklen Bergkämme, die sich gegen den Nachthimmel abzeichnen. Sie versucht, die Stadt zu finden, und lässt den Blick fast bis zum Horizont wandern. Sie macht dort Stopp, wodas Land ins Meer versinkt und der spitze Felsen aufragt. Sie hält das Fernglas ganz still.
Und dann passiert es wieder. Ein kurzes, grünes Blinken. Jetzt ist sie sicher. Es war ein Licht. Ein kurzes Blinken, dort, wo die Stadt liegt. Und da! Blink. Blink. Zwei Mal. Einmal grün und einmal rot.
Nanna nimmt die Taschenlampe, die auf dem Regal neben dem Fenster liegt und ohne nachzudenken, blinkt sie zurück. Das Licht erfüllt den ganzen Raum und sie sieht ihr Spiegelbild in dem erleuchteten Fenster.
9
Dicker Nebel umgibt das Haus, als Nanna aufwacht. Alles ist grau und es ist unmöglich, draußen irgendetwas zu erkennen. Sie ist erleichtert. Dann kann niemand sehen, wo sie sind, jedenfalls nicht heute. Warum hat sie geblinkt? Warum konnte sie es nicht einfach lassen? Sie hat doch gesehen, dass das Blinken aus der Stadt kam.
Fride liegt zusammengerollt auf dem Sofa vor dem Fenster und Papa schläft noch in derselben Haltung wie am Abend unter der karierten Decke. Wäre sein gurgelndes Atmen nicht, sie würde glauben, er wäre tot.
Im Wohnzimmer ist es klamm und kalt. Nanna wickelt sich in die Decke und geht zum Kamin. Da es neblig ist, ist es bestimmt in Ordnung, wenn sie Feuer macht. Sie schichtet ein paar Holzscheite auf und nimmt eine alte Zeitung zum Anfeuern. Auf der Titelseite ist ein Foto von einem Auto und ein paar Menschen, die Fahrrad fahren, abgebildet. Sie sehen aus, als hätten sie Ferien. Nanna zerknüllt die Zeitung und wirft sie in den Kamin. Vorsichtig zündet sie ein Streichholz an. Flammen lodern hoch und verbreiten Wärme und Licht in dem dunklen Zimmer.
Sie bleibt eine Weile vor dem Feuer sitzen, dann geht sie nach unten, um etwas zu essen zu holen. Der Bunker scheint ihr mit einem Mal ganz fremd, als wäre es lange her, dass siehier gewohnt haben. Alles ist so dunkel, eng und feucht. Die Tür zum Vorratsraum steht offen. Sie nehmen es nicht mehr so genau damit. Die Regale sind leer und Nanna muss suchen, bis sie etwas findet, das sich zum Frühstücken eignet. Makrele in Tomatensoße. Nein. Dosenananas. Ja. Das sollte gehen. Sie nimmt ein paar Dosen und geht nach oben. Fride sitzt neben Papa und
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