Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
irgendwann du in dem Bettchen in unserem Zimmer.«
»Und Mama? Erinnerst du dich an sie?«
»Ja. Sie war unternehmungslustig. Sie mochte Ausflüge und Fahrrad fahren. Und sie mochte Tee. Es war so gemütlich, in der Küche zu sitzen und mit Mama zu reden. Dann duftete es so gut nach ihrem Tee.«
»Ich erinnere mich an gar nichts«, sagt Fride enttäuscht.
»Nein, natürlich nicht. Du warst ja noch winzig klein.«
»Das weiß ich. Aber ich würde mich trotzdem so gerne erinnern. Wenigstens an eine einzige Sache.«
Nanna sagt nichts, sondern steht auf und fängt an, herumzustreunen. Fride begleitet sie. Papa ist eingeschlafen. Sie laufenauf dem Felsplateau herum. Fride klettert auf einen der grauen Wacholderstämme. Sie holt Schwung, springt so weit sie kann und landet direkt neben Papa. Er rührt sich nicht.
»Was ist mit Papa?«, fragt Fride.
»Nichts. Er muss sich nur ausruhen. Du siehst doch, wie viel er geschleppt hat. Er hat ja fast alles alleine getragen. Komm jetzt. Wir gehen an die Felskante.«
»Nein, irgendwas ist mit Papa. Schau mal sein Mund.«
Nanna läuft zu ihm und kniet sich hin. Papas Gesicht ist blass und glänzt vor Schweiß. Sein Mund zittert und aus dem Mundwinkel rinnt gelbbrauner, zäher Schleim.
Die Krankheit. Nanna weiß, dass es die Krankheit ist. Und plötzlich ist alles anders. Die karge Landschaft und das Meer sind mit einem Mal noch kahler und beängstigender. Der sonnenwarme Fels wird hart und kalt.
»Was ist denn?«, fragt Fride.
»Wir müssen ins Haus«, sagt Nanna. »Gib mir die Wasserflasche.«
Fride holt die Flasche und kniet sich neben Nanna.
»Papa«, sagt Nanna. »Papa?«
Er antwortet nicht. Er liegt nur da und das Einzige, was sich bewegt, sind seine zitternden Lippen. Fride hält Papas Hemdenärmel fest und beugt sich zu ihm.
»Papa. Papa«, wiederholt sie.
Nanna gießt etwas Wasser auf seine Lippen und er fängt an zu husten. Er hustet und hustet und aus seinem Mund kommt noch mehr dicker, gelbbrauner Schleim.
»Was ist das?«, weint Fride.
»Das ist die Krankheit, Fride«, sagt Nanna. »Genau das ist die Krankheit.«
Das Husten hört auf und Papa öffnet die Augen.
»Papa«, sagen sie wie aus einem Mund.
Noch nie haben sie ihn so traurig gesehen. Alle Freude ist aus seinem Gesicht verschwunden. Als hätte er etwas vorgehabt und es nicht geschafft. Er fasst ihre Arme und Nanna merkt, dass er zittert.
»Wir müssen nach Hause, Mädchen«, flüstert er. »Helft mir auf.«
Sie ziehen mit aller Kraft und langsam kommt Papa auf die Füße. Er geht los, ohne sie anzusehen. Nanna und Fride folgen ihm. Papa stolpert den Pfad hinunter, immer wieder muss er sich abstützen. An der steilsten Stelle, dort, wo der Pfad am Rand des Felsens entlangführt, legt er sich auf den Bauch und kriecht vorwärts. Nanna und Fride machen es ihm nach. Kriechen, bis sie wieder auf sicherem Grund sind. Im Garten angelangt, kann er nicht mehr. Er bleibt liegen, das Gesicht im Gras. Nanna und Fride legen sich neben ihn. Es ist fast dunkel geworden, ohne dass sie es richtig gemerkt haben, und über allem liegt der Geruch faulender Pflanzen.
»Wir müssen ins Haus«, sagt Nanna. »Hilf mir, Fride.«
Sie halten ihn fest und versuchen, ihn zum Haus zu ziehen, aber es geht nicht. Er ist viel zu schwer.
»Papa. Du musst ein bisschen mithelfen«, sagt Nanna.
Er stöhnt und fängt an zu kriechen. Sie ziehen und Papa stößt sich mit den Füßen ab. So bewegt er sich ein kleines Stück vorwärts, dann muss er sich wieder ausruhen. Endlich stolpern sie durch die Terrassentür. Fride macht sie eilig hinter ihnen zu, während Nanna ihrem Vater auf das Sofa am Kamin hilft.
»Nanna«, flüstert er. »Im Medikamentenschrank ist eine Dose, die mit einem Kreuz markiert ist. Hol sie mir, bitte.«
»Pass du hier auf«, sagt Nanna zu Fride und eilt nach unten in den Bunker.
Der Medikamentenschrank hängt in der Küche über der Spüle. Nanna steigt auf einen Stuhl und öffnet den Schrank. Er ist fast leer, aber sie kann jetzt nicht darüber nachdenken, sondern nimmt nur die Dose mit dem Kreuz und rennt zurück nach oben.
Papa schluckt alle Tabletten und schaut sie durchdringend an.
»Ich werde jetzt schlafen. Kümmer du dich so lange um Fride.«
Dann legt er sich auf den Rücken und schläft ein. Nanna deckt ihn zu. Fride sitzt am Fenster und schaut nach draußen. Inseln, Meer und Wald verschwimmen in der Dunkelheit.
Fride fängt an zu weinen. Leise Schluchzer und Tränen, die sie mit dem
Weitere Kostenlose Bücher